Abschiedsbrief an Dimash

15. Tag im Weihemond des Jahres 835   Mein Freund Dimash,     Wie du weißt, bin ich kein Freund vieler Worte. Es ist aber trotzdem notwendig, mich etwas wortreicher als sonst mitzuteilen. Dieser Brief hat einen traurigen Anlass, dieser aber einen guten Grund - beides möchte ich dir hier darlegen.   Der Anlass für diesen Brief ist: Ich muss mich mit diesen Zeilen von dir als meinem Reisegefährten verabschieden. Es fällt mir schwer, diese Worte zu schreiben, denn unsere gemeinsamen Abenteuer und Erlebnisse haben mich geprägt und bereichert. Mehr noch, du hast es klar gemacht, dass du unseren zusammengewürfelten Haufen von Außenseitern als deine Wahl-Familie ansiehst. Das ehrt mich sehr und weckt Erinnerungen:   Ich denke an die vielen Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben, und an die zahlreichen Orte, die wir besucht haben. Jeder dieser Orte hat uns seine eigenen Geschichten und Geheimnisse erzählt, und wir haben uns gemeinsam auf Entdeckungsreise und vielfach in Gefahr begeben.   Ich denke an unsere ersten Tage in der Hexe, an die Verwicklungen mit Largo, die Zeit in Emerald Harbour, an mein Amt als Tuske, und natürlich an all die kulinarischen Entdeckungen in den entlegensten Winkeln der Welt - und an die Leute, die wir auf unseren Reisen kennengelernt haben.   Du warst immer ein zuverlässiger und vertrauensvoller Begleiter, auf den ich mich in jeder Situation verlassen konnte. Wir haben allerhand Höhen und Tiefen erlebt und uns immer wieder gegenseitig unterstützt und wohl auch motiviert. Es ehrt mich, so tief in dein Vertrauen genommen worden zu sein, dass du mir deine Herkunft trotz der drohenden Gefahren mitgeteilt hast - umso wichtiger ist es, dass ich dir nun meinerseits einige Dinge anvertraue.   Ich danke dir für all diese wunderbaren Momente, für die Abenteuerlust und die Offenheit, sich auf die Welt einzulassen, die du mir gelehrt hast. Kurz: Ich bin froh um die Zeit, die wir miteinander verbringen durften, und um die vielen unvergesslichen Erinnerungen.   Das macht es mir nicht leicht, jetzt Abschied nehmen zu müssen. Ich bin mir zwar sicher, dass unsere Wege sich irgendwann wieder kreuzen werden, kann dir aber nicht sagen, wann das sein wird. Bis dahin wünsche ich dir alles Gute, Gesundheit und viele weitere aufregende Reisen.   Den Grund für diesen notwendigen Abschied kann und will ich nicht verschweigen, auch wenn ich das aus Gründen der Staatsraison vielleicht besser machen sollte. Grob gesagt: Ich sehe nicht, wie ich auf unserem derzeitigen Pfad meinen persönlichen Verpflichtungen nachkommen kann, auch wenn die Aufgabe, die wir übernommen haben, von großer Wichtigkeit ist.   Einen Teil dieser Verpflichtungen kennst du bereits: Meine Aufmerksamkeit gebührt einerseits der Verantwortung für die Menschen der Zerbrochenen Stadt, die ich auf mich genommen habe. Andererseits gibt es noch eine weitere, wesentlich ältere und wichtigere Verpflichtung, der ich mich zu lange - wenn auch nicht absichtlich - entzogen habe und welche darin besteht, die Interessen meines Volkes, meiner Familie, wenn du so willst, zu vertreten.   Warum ich das erst jetzt erwähne? Welche Familie? Was für ein Volk? Du musst wissen: Bis vor kurzem waren meine Erinnerungen getrübt, was meine Herkunft betrifft. Du hast sicher bemerkt, wich ich nach und nach an Macht und Fähigkeiten gewonnen habe. Das war nur zum Teil dem rigorosen Studium zu verdanken, das mich mehr als einmal davon abhielt, das Leben zu genießen.. Vieles waren Erinnerungen an meine Ausbildung und zuletzt an meine Herkunft. Der Sturm auf dem Slice hat diese letzten Erinnerungen wachgerüttelt, und ich habe seither oft überlegt, wie und wann ich das dir und den anderen eröffne:   Ich bin nicht von Il’Envey. Mein Geburtsort liegt weit entfernt in Ja’Taron, einem weit entfernten Kontinent, präziser: In einer Stadt namens Kahederell-Banarak, im Kanton von Alviris, auch wenn dir diese Namen vermutlich nichts sagen werden.   Meine Mission war, nach Il’Envey zu reisen, und dort zunächst herauszufinden, wie die Machtstrukturen sind und entsprechende Beziehungen aufzubauen. Mein Zirkel - eine Gruppe befreundeter Magier, wenn du so willst - war sich seit einiger Zeit sicher, dass ein Unheil sich zusammenbraut, von einer Dimension, die es klug erscheinen lässt, erstens Verbündete zu finden und zweitens nach Anzeichen ausschau zu halten.   Die Reise von Ja’Taron nach Il’Envey ist lang, entbehrungsreich und nur durch massive magische Unterstützung möglich. Dennoch erschien uns das Risiko gerechtfertigt und ich brach mit einem unserer Forschungsschiffe auf - zweihundert Seelen an Bord, drei Mitglieder meines Zirkels, Elementaristen, Handwerker, Seeleute, Diplomaten und Gardisten… Die Nha-Tahir war ein prachtvolles Schiff - und dennoch der Aufgabe nicht gewachsen. Sie kenterte in einem schweren Sturm, nachdem sie bereits durch unzählige Kämpfe gegen die Natur, Ungeheuer und Schlimmeres schwer beschädigt worden war. Ich wurde über Bord gespült und muss das Bewusstsein verloren haben.. Das war offenbar bereits in der Nähe von Envey, denn ansonsten wäre ich nicht - als meines Wissens einziger Überlebender - an der Küste angespült worden.   Dort fanden mich einige brave Hirten, die mich in ihrer Siedlung pflegten und bald begannen, mich als eine Art Heiligen zu verehren, konnte ich doch kraft meiner Herkunft nicht nur Wunden heilen, sondern auch so manches andere Wunder vollbringen.. Ich bin niemand, der sich gern in Verehrung sonnt, und so verließ ich diese Leute sobald ich dazu in der Lage war. Das war etwa eine Woche, bevor wir uns in der Hexe trafen.   Bis vor wenigen Tagen hatte ich keine Erinnerungen an alles, was vor meinem Erwachen an der Küste geschehen war, doch seither treibt mich die Vergangenheit natürlich um - und erfordert, dass ich mir Gedanken um meine Zukunft mache:   Mein erster Schritt wird sein, ein Gesandtschaftsbüro in Envey einzurichten, meinen Zirkel zu kontaktieren, eventuell Kontakte zum Kaiserhof aufzunehmen - nach weiteren Überlebenden der Nha-Tahir zu forschen - und dann weiterzureisen in die Zerbrochene Stadt. Ich habe den Menschen dort ein Versprechen gegeben und bin geneigt, es einzuhalten, selbst wenn das bedeutet, dass meine Aufmerksamkeit abermals geteilt wird. Ich hoffe, dies reicht dir als triftige Begründung, einstweilen nicht weiter an deiner Seite reisen zu können.   Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass niemand, erst recht nicht ich selbst, unersetzlich ist, stehe natürlich weiter für eventuelle Konsultationen zur Verfügung, muss mich jedoch, wie schon erwähnt, von unserer gemeinsamen Reise zurückziehen. Ein Brief an mein Büro in Envey oder mich selbst in der Zerbrochenen Stadt wird mich sicher erreichen - und mehr noch - freuen.   In Dankbarkeit und mit herzlichen Grüßen,   Rouan Ni Ikitan alias Mewin   PS: Richte meine besten Grüße und meinen Abschied auch an unsere anderen Reisegefährten aus. Nichts in diesem Brief ist geheim, es steht dir frei zu teilen was du möchtest. Ich wünsche euch viel Erfolg - und dir viel Glück mit deiner gewählten Familie.   PPS: Ich war so frei, mir meinen Anteil an dem gemeinsam verdienten Sold für den Tod des Drachen zu entnehmen. Ich werde einen Teil davon für meine Verpflichtungen benötigen, doch bei weitem nicht alles. Solltest Du akuten Bedarf an finanzieller Hilfe haben, wende Dich an mein Büro in Envey, sobald es eingerichtet ist.    
PPPS: Jetzt, am Ende dieses Briefes, denke ich, es wäre das Beste, vieles von dem, was ich geschrieben habe, im Gespräch zu klären. Ich werde das tun - und dir diesen Brief dennoch zukommen lassen. In diesem Sinne: Alles Gute!
Typ
Text, Letter

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