Eintrag 38: Eine zutiefst gespaltene Gesellschaft.

General Summary

Wahid, der 36te Tag im Segment des Gesichtslosen im Zyklus 61CZ

  Aus dem persönlichen Audiolog von Layla Al-Biruni   Wir flogen mit dem Shuttle in Richtung des Monolithen nach Klein-Algol, wo uns Rayna und Sabetha auf einem Steg in einem kleinen Hafengelände absetzen, da es keine geeigneten Landeplätze gab. Sie flogen sogleich zurück zu den Reparaturen zur Absturzstelle des neuen Raumschiffs unserer kleinen Flotte.   Bereits während des Anflugs sichteten wir dichte Rauchschwaden über dem Armutsvierte nahe der Docksl, in dem unser Ziel lag. Beim Näherkommen sahen wir beschädigte Kähne und eine niedergebrannte Lagerhalle, die unser Ziel war. Überall giftige Rauchschwaden, Tote, Trümmer und Löschschaum, was unsere Erkundung stark erschwerte. Schließlich fanden wir aber zwei schwer beschädigte Stasiskapseln der bekannten Bauart (von Ghodar Genetiks), eine davon mit einem (grausig verkochten) Leichnam. Außerdem Kanister mit Stasisflüssigkeit.   Moth beruhigte die Leichenträger und Bergungsarbeiter, die von unserer waffenstarrenden Präsenz eingeschüchtert waren. Von ihnen erfuhren wir, dass die Vorarbeiterin Tubra Ghutan anscheinend nicht unter den Toten sei, sondern vermutlich im Büro von Hassam. Dieses fänden wir im Suq Kabra. Als wir dorthin aufbrachen, plünderte ein armer Mob die letzten Reste des Warenhauses. Auch auf dem Weg sahen wir überall Armut und Unterdrückung. Die hier eingesetzten Soldaten von Nestera gehen brutal und rücksichtslos gegen die Bevölkerung vor, sind aber auch Ziele für Guerilla-Taktiken einer sogenannten “Armen-Brigade”.   Schließlich erreichten wir die Panel-Plaza mit schönen, schwimmenden Gebäuden, deutlich wohlhabenderen Passanten und viel Schmuck für die anstehenden Feierlichkeiten der Zyklade. Hier wurden allerdings mehr oder minder offensichtlich auch Sklaven zum Kauf angeboten. Beim Boten! Dass wir diesen verruchten Handel immer noch im Horizont vorfinden!   Ein kleiner, anscheinend am Arm verletzter Junge fiel mir auf, den ich von Vermisstenbildern auf der Coriolis wiederzuerkennen glaubte. Wir befreiten ihn, unblutig, mit Birr. Er war von seinem Vater aufgrund von angeblichen Visionen für eine Behandlung zu den Samaritern geschickt worden, hatte aber gar keine mystischen Fähigkeiten, und war deshalb wieder fortgeschickt worden. Auf dem Rückweg sei er dann aber von einem Trupp der Garde festgenommen und dann nach Kua verschleppt worden. Ein weißes Kreuz habe man ihm auf die Stirn gemalt. Eine Frau mit Narben im Gesicht habe ihn aber gut behandelt und ihm den unverletzten Arm in eine Schlinge gelegt. Außerdem habe er dort ein Mädchen mit schwarzem Kreuz auf der Stirn gesehen, Marie, offenbar die vermisste Prinzessin von Aiwaz, wie uns klar wurde. Wir konnten den besorgten Vater des Jungen, einen Diplomaten von Mira, erfolgreich kontaktieren und den Kleinen eine Stunde später mit einem Shuttle bei Moth abholen lassen, der ihn derweil beaufsichtigte.   Wir anderen gingen weiter zu Hassams Büro, einem zweistöckigen Gebäude, an dem bunte Poster hingen. Davor packte gerade eine Wahrsagerin ihren Stand zusammen: Miranda, eine Erstsiedlerin so um die 30, Dabarani wie ich. Offenbar hatte sie die späte Nacht bis zum frühen Morgen hier ihre Dienste feilgeboten. Sie wollte allerdings dem sehr aufdringlichen Kevin keine Wahrsagung erteilen, nicht für Drohnen. Aber mir! Sechs Karten des Ikonendecks für nur 10 Birr. Ich war sehr gespannt. Dies hier ist ihre (etwas unheimliche) Prophezeiung, in Stichworten:    
The Messenger – A Secret: Ihr verfolgt ein großes Geheimnis ... The Dancer – Passion: mit viel Leidenschaft ... The Faceless – Misfortune: aber das Unglück verfolgt euch seit Beginn eurer Reise. The Dancer – Beast: Eure Handlungen wecken DIE BESTIE zunehmend auf. The Gambler – A Treasure: Aber ihr fühlt euch dem Ziel eurer Reise sehr nahe. The Merchant – Betrayal: Wann immer ihr denkt, nur die Hand danach ausstrecken zu müssen, werdet ihr betrogen und verraten.
    Die letzte Karte sei meine Schicksalskarte. Ikonen, steht uns bei! Aber das ist doch alles nur billiger Aberglaube, das Deck sah nicht echt aus, nicht wie das von Moth. Oder? Und dann sagte sie noch: “Die Bestie ist auf Euch aufmerksam geworden. Die Sonne geht auf. Zeit wartet nicht. Umdrehen und vergessen ist besser ...” Wir verneigten uns voreinander. Und sie verschwand in den Gassen, während ich noch ziemlich konsterniert dastand.   Im Anschluss stiegen wie leise die schmale Treppe zum Büro hinauf. Dort prangten Mosaike und das Zeichen des Boten. Die Tür war nur angelehnt, aber nicht beschädigt. Und so bewegten wir uns sehr leise hinein – und fanden ein Blutbad vor. Zwei Tote mit aufgeschlitzten Kehlen: ein Mann in Eunuchenkleidung direkt am Eingang, weiter hinten im Hauptbüro eine ebenso tote Frau, in deren Händen wir einen Kommunikator fanden. Niobe, so hieß sie, hatte eine letzte Nachricht an Tubra geschickt, dass sie noch auf die Bezahlung von Dol-Quassar warte, bevor sie auch flüchten könne, um Tubra in Taminas Hammam zu treffen, einem Badehaus. Das war offenbar ein großer Fehler. Wir durchsuchten noch das Büro, fanden aber ausser einem Birr-Stick keine interessanten Aufzeichnungen.   An Proxy-Shops vorbei eilend suchten wir die Dampfbäder von Taminas Hammam auf, die wir unter anderen Umständen bestimmte genossen hätten! So mussten wir unbewaffnet und kaum bekleidet im Nebel herumsuchen, bis wir Tubra, der Abstammung nach eine Sogoi und Ureinwohnerin von Kua, endlich fanden und sie für ein Gespräch abschirmen konnten. Die “Ware” werde an den Palast des in der Nachricht genannten Dol-Quassar geliefert, ein adliger Exil-Dabarani, der angeblich in Unterweltaktivitäten oder gar Sklavenhandel involviert sein könnte. Sie ist sich der Gefahr bewusst, die auch ihr droht, wollte aber nicht auf unser Schiff mitgenommen werden. Und so verschwand sie nach unserem kurzen Gespräch im Nebel, während auch wir das Bad ohne Zwischenfall verließen.   In einem Chai-Haus mieteten wir einen Gesprächsraum zur Planung unseres weiteren Vorgehens. Wir recherchierten zu Dol-Quassar in der Infothek. Offenbar fand genau heute nach Sonnenuntergang eine Hochzeit in seinem Palast statt: sein Sohn heiratet eine Tochter einer einflussreichen Zenither-Familie. Ich schrieb dem Scheich eine offizielle Nachricht, ob er mich nicht auf die Gästeliste setzen könne; Prinzessin von Dabaran, gesellschaftliches Orientieren für meine eigene bevorstehende Hochzeit (beim Boten, wie fügsam bin ich geworden. Aber ich bin immer noch nicht sicher, ob ich das am Ende durchziehen werde …).   Da wir nicht wussten, ob, wann und wie er antwortet, entwarfen wir zahlreiche andere Pläne, um in das zwar etwas heruntergekommene, aber schwer bewachte Anwesen zu gelangen. Das Team ging ohne mich um den Palast spazieren, Kevin erkundete im Anschluss sogar mehrere Zugänge zur Kanalisation, hatte aber keinen Erfolg. Wir übergingen es taktvoll: aber er stank fürchterlich danach, wollte sich aber nicht in Raynas fachkundige Hände zu einer rituellen Waschung seiner glatten künstlichen Oberflächen begeben.   Wir ließen Rayna und Sabetha zwei Stasiskammern vom Plateau mit dem Shuttle bringen, von denen Kevin eine so umbaute, dass man sie von innen öffnen konnte und die Vital-Anzeigen von uns manipuliert werden können. Das wäre unser Notfallplan, ich glaube, wir waren bei Plan C oder D angelangt. Ich schrieb derweil noch eine Nachricht an die Söldner der Schakale, dass wir die nun herrenlosen “Kisten” aus dem Dschungel, die noch irgendwo mit den Crawlern unterwegs waren, gegen Birr übernehmen würden. Bisher keine Antwort.   Derweil kam aber zum Glück eine positive Antwort von Dol-Quassar: hoch erfreut, mich kennenzulernen, hat er mich mit einem Gefolge auf die Gästeliste gesetzt. Also doch Plan A. Vornehme Garderobe wird vorausgesetzt, keine Waffen oder Ausrüstung erlaubt. Kevin wird also draußen bleiben müssen. Wir anderen gingen erstmal shoppen. Besonders Zein und ich hatten viel Spaß. Ich gewöhne mich langsam wieder an diese edlen Kleider und finde fast Gefallen daran, mich “standesgemäß” zu kleiden – wenn es denn der Sache dient. Ansonsten trage ich aber lieber weiter meine Pilotenjacke.   Und so fanden wir uns abends im Palast des Dol-Quassar ein. Kevin musste tatsächlich draußen im Regen warten, er bildet aber unsere schwer bewaffnete Rückversicherung, falls es zu einem Kampf kommen sollte. Und das viele saubere Wasser wird ihn von seinem Geruch befreien ...   Es war ein denkwürdiges Event, bereits am Anfang. Gutes Essen und Getränke wurde gereicht. Sehr viele Gäste, die sich in kleinen Grüppchen jeweils unter ihresgleichen hielten. Offene und herzliche Erstsiedler hier – verschlossene Zenither dort, die sofort ihr Gesprächsthema wechselten, als ich mich mit meinem Cocktail unter sie mischen wollte. Zein und Talapor wurden von ihnen eher akzeptiert. Überall snobistischer Landadel meist weit unterhalb meiner Klasse, keine echten Stars aus den höchsten Kreisen über mir. Mir fielen eher andere Personen auf: eine Frau mit Narben im Gesicht und einem bionischen Auge, Zugehörigkeit unklar. Fast wie ... aus der Erzählung des Jungen? Zufall?   Ich kam leider nicht dazu, sie anzusprechen, denn in diesem Moment gab es einen Zwischenfall. Ein Zenither beschimpfte einen lokalen Bediensteten für irgendein kleines Malheur – und forderte dann lautstark sofort den Tod des Mannes. Der Diener wurde von den Wachen aus dem Saal geschleift, sein weiteres Schicksal ist unklar. So sind sie also im Alltag, die Zenither aus den unteren Kreisen des Adels. Weiter oben sind mir bisher nur deutlich tolerantere Personen begegnet … oder verstellen sie sich nur?   Ich machte dem “Möchtesehrgern-Scheich” und dem Brautpaar eine kurze Aufwartung. Dol-Quassar Senior war nicht unsympathisch, aber er wollte klar gefallen und Anschluss in höhere Kreise suchen. Offenbar fühlte er sich durch meinen Besuch wirklich geehrt. Er möchte aber eher zu den Zenithern wechseln, wozu die Hochzeit ein wichtiger Fortschritt ist. Die Zenither waren allerdings weniger begeistert, vor allem die Braut wirkte in meinen Augen sehr unglücklich. Sie wurde aber von Kurtisanen, die definitiv in Alams Tempel ausgebildet wurden, abgeschirmt (sie müsse sich auf den Hochzeitstanz vorbereiten), und ich konnte nur ein kurzes Wort wechseln. Eine der beiden Kurtisanen war klar eine schnelle und durchtrainierte Kämpferin; sie sprach mich auch als Windtänzerin an. Mein “Würdenstab” (der verzierte Mercurium-Speer, heute ohne Energiezelle) gibt Eingeweihten etwas zu viel von mir preis.   Sollte man diese Braut vor ihrem Schicksal retten? Was gäbe es für Schlagzeilen, wenn gerade ich diese eindeutige Zwangshochzeit zu “sprengen” versuchte, beim Boten! Sie tut mir leid, und ich nehme mir vor, ihr in Zukunft vielleicht zur Seite zu stehen. Der Bräutigam Marak Dol-Quassar wurde von irgendwelchen neozenithischen Saufkumpanen bereits mächtig mit Kohol abgefüllt, es war kein Gespräch möglich.   Ein weiterer Gast erschien. Ein Frau von solcher Energie, dass vielen im Raum der Atem stockte und alle zur Seite eilten, als sie vorbeirauschte. Drahtig, feminin, unnahbar. Lotusparfüm. Teures rotes Abendkleid, lange schwarze Haar in einem Dutt. Rötlich-braune Augen, die einen im Bann hielten. Sie steuerte direkt auf mich zu. Ich hielt ihr Stand, aber nur mit Mühe; sie ist … unglaublich. Als sie mir, fast direkt an meinem Gesicht, eine knappe Begrüßung zuflüsterte, wurde mir klar: Hier steht die Judikatorin Akouba Kosha – heute ohne Rüstung! Wow. Sie wirkt wie die echte Prinzessin, nicht ich.   In diesem Moment begann die offizielle Rede von Dol-Quassar, der sehr eloquent und überraschend würdig Brücken zu schlagen suchte zwischen den Anwesenden und in die Zukunft schaute. Danach konnte man sich zu Einzelaudienzen mit ihm anmelden. Was ich nach etwas Zögern und Rücksprache mit Judikatorin Kosha auch machte; allerdings riet sie mir ab, mit Dol-Quassar Klartext zu sprechen, denn er könnte alle Spuren verwischen. Was mache ich aber stattdessen? Ich beriet mich mit der Crew. Wir kamen zu keiner echten Lösung, als mein Termin irgendwie auffällig schnell bewilligt wurde. Irgendwie wurden hier andere übersprungen? Nun gut Layla, du machst das schon. Immer drauflos.   Ich wurde in einen Vorraum geführt, meinen Stab musste ich nun auch abgeben. Dann ging es in einen verbarrikadierten Raum mit einem kleinen Buffet. Dol-Quassar, mit Glas in der Hand, wirkte gelöst. Die Tür wurde verriegelt, nachdem ein einzelner Diener der scheinbar die Speisen und Getränke bereitgestellt hatte hinter mir den Raum verlies. Nach kurzem Vorgeplänkel wählte ich die Route der Gemeinsamkeiten: Wir hätten auch schon mit dem jüngst leider verstorbenen T.K und entsprechenden Organisationen (in Gedanken: Syndikat) gearbeitet, man müsse im Horizont natürlich Kompromisse machen, persönlich lehne ich Sklavenhandel zwar ab, aber wir seien in einer anderen, aktuell weitaus wichtigeren Angelegenheit hier. Und erzählte ihm offen von der Spur an Morden, die direkt zu ihm führte.   Er war nicht wirklich überrascht davon, auf einer Abschussliste zu stehen, denn sein Anwesen war nicht grundlos so gut gesichert. Er hielt aber Salamah für eine einfache Schmugglerin von Sklaven. Als ich ihm andeutete, dass er sich mit einem Spezialkommando von Zalos und einer Killer-Diakonin eingelassen hatte, die Mystiker und andere (ich erwähnte den Abgesandten gar nicht erst) entführt, behielt er zwar die Fassung, aber es wurde schnell klar, dass er erst jetzt die Tragweite der “Transportoperationen”, in die er verwickelt war, im Ansatz begriff. Er meinte, ich solle mit seiner Maschinistin Jarja sprechen, die alles organisiert. Ziel der “Ware” mit den schwarzen Kreuzen seien die Sümpfe von Sultra. In Anbetracht der Gefahr wollte er nun schnell zu seinem Sohn, um nach dessen Sicherheit zu sehen. Es schien ihn ziemlich mitgenommen zu haben, denn er war bereits blaß geworden und räusperte sich einige Male, als er hinaus eilte.   Beim Verlassen seines Raumes gelang mir jedoch der Blick auf jemanden, den ich hier nicht erwartet hätte, eine Person, die nur kurz zu mir blickte und bereits dabei war, in der Menge zu verschwinden: Die Wahrsagerin! In der Kluft einer Bediensteten. Dann brach die Hölle los. Ich drehte mich zur Seite: Dol-Quassar mit schäumendem Mund... Geschrei. Feuergefechte, als die Wachen blindwütig jeden von ihm abhalten wollten, auch Ersthelfer, die niedergemäht wurden. Andere zogen eingeschmuggelte Vulkangrillen und schossen zurück.   Nur Moths gewaltiger neuer Autorität (und seinem Stimmmodulator) war es zu verdanken, dass das Blutvergießen stoppte. Ich funkte Kevin kurz an, dass er draussen nach der Wahrsagerin in Bedienstetenkleidung Ausschau halten solle. Wir anderen kümmerten uns zusammen mit der Judikatorin direkt um Dol-Quasar und die anderen Verletzten. Dol-Quassar war leider nicht zu retten, er gurgelte mir nur leise hauchend letzte Worte zu, was Kosha irgendwie stoppen wollte (oder schien es nur so?): Endkunden in den Sümpfen von Sultra .. auch die Zenithische Hegemonie ist beteiligt, versucht Einfluß auf die Operation zu nehmen. Dann starb er. Möge der Bote ihn geleiten.   Und ich hörte in genau diesem Moment wieder diese dunkle Stimme im Kopf … “Die Flügel des Schmetterlings werfen Schatten auf den Horizont. Der Schmerz der Geburt steht uns bevor. Zwischen gelebten und verlorenen Momenten. Der Spiegel bestimmt die Distanz zwischen dem Gespiegelten und dem Spiegelbild.” … oder … so ähnlich.   Ist es der Abgesandte, der zu mir spricht? Oder die Bestie?   Layla Out.
Andere Logbücher der gleichen Zeitspanne:   Moth I. Roxar   Dr. Ekrem Q. Talapor
Autor: Ben Zorn
Datum des Berichts
24 Oct 2021
Hauptschauplatz
Nebenschauplätze

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