Die Schuppe der Weisheit
Einst lebte am Rande der nördlichsten Wälder im antiken Land Ethris mitten auf einer Lichtung eine arme Frau mit ihren drei Söhnen. Der älteste war ein kräftiger Bursche und sorgte für den Hof. Der mittlerste war recht klug und kümmerte sich um Abgaben und Botengänge. Der jüngste Sohn aber verließ Morgens das Haus, zog in den Wald, um seine Liebste zu besuchen und kam erst am späten Nachmittag zurück.
Eines Tages zogen Ritter des Königs durch den Wald, machten Halt auf der Lichtung und überbrachten die Nachricht, dass der König einen Bräutigam für seine zwei Töchter suchen würde. Alle Söhne des Landes sind eingeladen, um die beiden Prinzessinnen zu freien.
So suchten sich die drei Brüder ihre besten Kleider heraus, packten etwas Reiseproviant ein und machten sich auf dem Weg zum Schloss des Königs von Ethris. Sie liefen und liefen, bis sie an eine Weggabelung kamen, die in drei Richtungen führte. Jedoch war kein Schild zu sehen, sodass sie nicht wussten, welchen Weg sie wohl gehen sollten. Da entdeckten sie hoch in den Bäumen mitten in den Ästen ein kleines Häuschen. Sie riefen hinauf und eine junge Hexe steckte ihren Kopf zum Fenster hinaus. Die Brüder fragten sie nach dem rechten Weg und sie antwortete: "Der erste Weg führt zu Macht und Stärke. Der zweite Weg führt zu unbegrenztem Wissen. Der dritte Weg aber, führt ins Verderben." Da die Hexe dem jüngsten Bruder bei ihrer ersten Antwort zuzwinkerte, wählten sie diesen Weg und bedankten sich bei der Hexe für ihre Hilfe.
Als die Nacht hereinbrach, schlugen sie ein kleines Lager auf. Der älteste der Brüder ging auf die Jagd. Er wollte gerade einen Grashasen erlegen, als dieser sprach: "Lass mich am Leben Bruder meines Liebsten, fertige für mich ein Nestchen aus Moos und Batmúne und ich werde dir helfen." Der zweite ging an einen Bach, um Wasser zu holen, dabei fing er einen Blauschuppenfisch. Als er ihn töten wollte, brummte der Fisch: "Lass mich am Leben Bruder meines Liebsten, höhle für mich eine Lúnafrucht aus und ich werde dir helfen." Der jüngste kümmerte sich derweil um das Lager und trällerte dabei ein fröhliches Lied, sodass ein Rotfiederchen angelockt wurde und sich auf seine Schulter setzte. Als er es fangen wollte, zwitscherte es: "Lass mich am Leben Liebster, baue für mich einen Käfig aus Stöcken und Gras und ich werde dir helfen.
Bei Tagesanbruch machten sich die drei Brüder mit ihren tierischen Gefährten wieder auf den Weg. Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, erreichten sie das Tor des Schlosses. Wie viele vor ihnen, ließ man sie eintreten und geleitete die Brüder durch einen langen Säulengang mit wunderlichen Statuen in den Thronsaal. Bevor die drei eintreten konnten, wurde eine weitere Statue aus dem Raum gebracht und in die Reihe zu den anderen gestellt. Im Thronssal saßen die Prinzessinnen traurig neben ihrem Vater und weinten bitterlich. Als die Brüder vor ihnen standen, hielten sie inne und die ältere Schwester sagte: "Ich will euch auf die Probe stellen. Derjenige von euch, der die Aufgabe löst, soll mein Gemahl werden! Aber, wer versagt, wird uns für immer als herzloser Geselle dienen. Nun ruht euch aus."
Am Morgen stellte die Prinzessin zuerst dem ältesten der Brüder eine Aufgabe. Er sollte sich zu den Nachtkobolden begeben und für die Schwestern das Zepter der ewigen Dunkelheit stehlen. So machte er sich mit dem Grashasen auf den Weg und reiste einen Tag und eine Nacht bis er vor der Eingangshöhle der Nachtkobolde stand. Er kletterte hinein, doch kam er an einer engen Stelle nicht weiter. Da holte er den Grashasen aus seinem Nestchen und bat ihn, das Zepter der Dunkelheit für ihn zu holen. Dem Hasen gelang es und er bat den ältesten ihn frei zu lassen. Der Bruder dankte dem Hasen und machte sich wieder auf den Rückweg. Als er jedoch vor den Prinzessinnen stand und ihnen das Zepter überreichen wollte, war das Zepter verschwunden. Die beiden Prinzessinnen drehten ihren Kopf und unter ihren goldenen Haaren krochen zwei schaurige Unken hervor. Sie zischten laut und plötzlich wurde der Bruder in Stein verwandelt.
Am nächsten Tag stellte die Prinzessin den zweiten Bruder auf die Probe. Er sollte sich zu den Eisflossern begeben und ihnen den Ring des ewigen Frostes stehlen. Zusammen mit dem Blauschuppenfisch machte er sich auf den Weg und reiste zwei Tage und zwei Nächte bis er vor einem eisigen See stand, in dessen Tiefen er tauchen musste. Da holte er den Fisch aus seinem Behältnis und ließ ihn ins Wasser gleiten. Der Fisch stahl den Ring und als er wieder an der Oberfläche schwamm, bat er den zweitältesten, ihn frei zu lassen. Der Bruder dankte dem Fisch und lief zurück zum Schloss. Doch wieder passierte dasselbe. Der Ring war verschwunden und die Unken unter den Haaren der Prinzessinnen verwandelten den Bruder in eine Statue.
Tags darauf sollte nun der jüngste der Brüder eine Aufgabe erhalten. Die Prinzessin verlangte, dass ihnen die Schuppe der Weisheit eines Drachen gebracht werde. Und so machte sich der dritte Bruder zusammen mit dem Rotfiederchen auf den Weg und sie reisten drei Tage und drei Nächte bis sie den höchsten Gipfel der Drachenberge erreicht und einen Drachenhort gefunden hatten. Sie schlichen sich hinein und stießen auf einen weißgoldenen schlafenden Drachen. Doch immer, wenn sich der jüngste Bruder dem Drachen nähern wollte, um ihm die Schuppe am Kopf zu entfernen, bewegte sich der Drache, als wolle er erwachen. So setzte sich das Rotfiederchen an sein Ohr und trällerte etwas hinein.
Da Drachen alle Sprachen der Welt sprechen, verstand er genau, was das Rotfiederchen sagte: "Ich träumte von zwei Prinzessinnen und alle, die um ihre Hand anhielten, wurden nie wieder gesehen." "Nun...", anwortete der weißgoldene: "... es sitzen zwei Teufel unter ihren Haaren." In diesem Moment zog der Bruder zum ersten Mal an der Schuppe, doch es rührte sich nichts. So sang das Vögelchen erneut: "Ich träumte von einem Schloss und überall standen Steine wie Statuen in den Gängen." "Einst waren sie aus Fleisch und Blut." sprach der Drache und als er dies sagte, zog der jüngste ein zweites Mal an der Schuppe. Diesmal bewegte sich die Schuppe ein wenig. Deshalb zwitscherte das Rotfiederchen noch einmal: "Ich träumte von einer Braut, doch wie wird sie mein?" Der Drache antwortete: "Töte die Teufel mit einer List und es wird geschehen." In diesem Moment zog der Bruder ein drittes Mal am Kopf und löste die Schuppe der Weisheit. Da dem Drachen nun das wichtigste fehlte, löste er sich in Luft auf und ward nie wieder gesehen.
Als der jüngste Bruder zurück im Thronsaal vor dem König und seinen zwei Töchtern stand und die Schuppe überreichen wollte, hüpfte das Rotfiederchen auf seine Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Prinzessinnen waren neugierig, sodass der Bruder sprach: "Die Schuppe wird Euch gehören, doch müsst ihr dafür tief in sie hineinblicken. Nur so könnt ihr ihre Weisheit ergründen." Er überreichte die Schuppe den Prinzessinnen und zwei Unken krochen unter ihren Haaren hervor und vergrößerten ihre Augen. Plötzlich erstrahlte die Schuppe in einem hellen Licht und die Unken fingen an zu ächzen und zu kreischen. Mehr und mehr plusterten sie sich auf, bis sie schließlich zerplatzten. Nun waren die Prinzessinnen frei und auf dem Gang war lautes Stimmgemurmel zu hören.
Die Türen öffneten sich und alle einstigen Statuen, waren wieder am Leben. Die Brüder umarmten sich und die beiden ältesten hielten um die Hände der Prinzessinnen an. Der jüngste Bruder jedoch, nahm sein Rotfiederchen, verabschiedete sich von seinen Brüdern und lief zurück in den Wald. Als er zurück an der Weggabelung unter dem kleinen Häuschen stand, verwandelte sich das Rotfiederchen wieder in die kleine Hexe, die den drei Brüdern einst den Weg verraten hatte. Der jüngste Bruder küsste die Hexe und wenn sie nicht gestorben sind, so küssen sie sich noch heute.
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