Prolog

Dresden, Mitte 18. Jahrhundert

 
Leise tanzten die Schneeflocken über die von Nacht geschwärzten Dächer der Stadt Augusts des Starken und hüllten sie in ein eisig weißes Kleid. Die ganze Stadt schlief schon. In der Ferne war Pferdewiehern, gepaart mit Hufgetrappel und dem Rumpeln eines Wagens zu hören, der über die gepflasterten Straßen holperte. Wahrscheinlich hatte irgendein Adliger die Sperrstunde vergessen und nun zog es ihn volltrunken zurück ins heimelige Ehebett der warmen Stube. Die Gassen waren dunkel. Nur hier und da sah man das schwankende Leuchten einer kleinen Laterne gehalten von einem untersetzten Nachtwächter, der einsam und frierend durch die Straßen zog, nach dem Rechten sah und die geschlagenen Stunden verkündete. Selbst die Ratten blieben lieber in ihren kuschligen Nestern.

Bis Weihnachten dauerte es nun nicht mehr lang. Die ersten Stände für den bis weit über die Tore Dresdens hinaus bekannten Striezelmarktes waren bereits aufgebaut worden und warteten auf die Händler, die nicht nur aus den benachbarten Ortschaften kamen, um ihre Waren feilzubieten. In der Mitte des von Buden umsäumten Platzes stand eine Tanne als Weihnachtsbaum, die mit Äpfeln der Region behängt worden war. Durch den Schnee sahen die Äpfel aus, als hätten sie weiße Mützen aus Puderzucker auf.

Es erweckte nicht den Eindruck, dass irgendetwas die Ruhe der schlafenden Stadt stören könnte. Doch plötzlich drang ein gleißender Lichtstrahl in die Dunkelheit des Platzes, auf dem der Weihnachtsmarkt stattfinden sollte. Ein zweiter, dritter und vierter folgte. Langsam verschmolzen die vier Strahlen zu einem Strudel aus Regenbogenfarben, dessen Hitzesog sämtlichen um ihn herumwirbelnden Schnee schmelzen ließ. Der Nachtwächter, der das gleißende Licht in der pechschwarzen Nacht sah, rannte so schnell, er konnte in die Richtung, aus der es herkam. Er dachte an Feuer und gleichzeitig rief er laut in die Nacht: „Ihr Leute wachet auf, Feuer, Feuer, Feuer. Kommet und helft!“. In den Häusern wurden nach und nach einige Lichter angezündet. Menschen in langen Nachthemden und mit Schlafmützen auf ihren Köpfen rannten mit vollen Wassereimern in die Richtung des Striezelmarktes. War es wirklich ein Feuer, so musste verhindert werden, dass es sich in der ganzen Stadt ausbreiten konnte.

Atemlos kam der Nachtwächter, gefolgt von ersten Helfern zum Striezelmarkt. Alle blieben wie angewurzelt stehen und starrten auf den Lichtwirbel. Es hatte den Anschein, als wären die aufgescheuchten Bewohner durch die in sich drehende Bewegung der Strahlen paralysiert worden. Keiner konnte sich bewegen, etwas sagen oder in anderer Weise auf das Ereignis reagieren.

 
Durch den Strudel waren laute Stimmen zu hören, die immer wieder ein „Beeil dich. Du musst sie finden, ohne sie sind wir alle verloren.“, riefen und bevor das Lichttor wieder geschlossen wurde, sprang etwas hastig durch den Wirbel. Das Wesen war nicht zu erkennen, aber es schien, als wäre es noch nie auf zwei Beinen gelaufen. Es schwankte hin und her, so als müsse es erst noch ein Gleichgewicht entwickeln, wie ein Baby, dass mit dem Laufen beginnt. Die Kreatur stolperte keuchend über den Platz des Weihnachtsmarktes in die nächstbeste Seitenstraße und verschwand. Was übrig blieb, war eisiges Schneegeriesel, rabenschwarze Nacht und eine Gruppe stillstehender Menschen.

Nach einer Weile löste sich die Starre der Bürger. Sie schauten sich verdutzt an und fragten sich, was sie denn hier machen würden. Zwar sagten alle, sie hätten ein grelles Licht gesehen und seien deshalb hier hergekommen, um ein Feuer zu löschen. Da aber kein Feuer zu sehen war, schütteten sie ihre Eimer aus und machten sich alle wieder auf den Weg nach Hause, bevor sie noch Erfrierungen erlitten. Der Nachtwächter, der sich wohl am Meisten über das Geschehene wunderte, kratzte sich fragend am Kopf, drehte sich in Richtung Schlosskirche und stapfte mit schwankender Laterne davon.

Am nächsten Morgen erschien die Stadt, als wäre nichts gewesen. Nichts deutete darauf hin, dass in der Nacht etwas Ungewöhnliches geschehen wäre. Zwar wurde auf dem Strietzelmarkt hinter vorgehaltener Hand über ein unerklärlich helles Licht in der Dunkelheit getuschelt, aber da es sich nicht wiederholte, nichts Schreckliches passierte oder andere merkwürdige Ereignisse eintraten, ging jeder wieder seiner gewohnten Arbeit nach und die Erscheinung geriet bald in Vergessenheit.


Cover image: Dresden 18. Jahrhundert by Blue Fairy 74 - Midjourney-Collage

Comments

Please Login in order to comment!