Bericht von Dragosch von Sichelhofens Knappe Brin von Rhodenstein

Im Boronmonde – als im Weidenlande längst der Winter herrschte und die Stürme tosten – kehrte Dragosch von Sichelhofen auf den Rhodenstein zurück. In seinem Gefolge ritten hundert Geweihte und Ritter aus den großen Tempelburgen zu Wehrheim und Angbar. Brin, der Knappe, hatte Mauerwacht in jenen Tagen. Auf dem Rhodenstein waren derweilen die edlen Rittfrauen Arabel von Arivor, Meisterin des Bundes im Westen, und Bibernell von Hengisfort, Meisterin des Bundes im Süden, mit gewaltiger Gefolgsschar eingetroffen. Darunter befand sich auch Ayla Eiridias von Schattengrund, die Baronin von Schattengrund. Die Fürst-Erzgeweihte zu Donnerbach sei gegen Mitternacht gezogen, kündete eine Donnerbacher Gesandtschaft. Darum waren Schwertbruder Thundra vom Rathilsteine und der Vertraute der Fürstin, der junge Drachwill Eisengrimm von Donnerbach, hinabgeeilt aus dem Norden. Für das alte Reich war Nepolemo ya Torese erschienen, ein Komtur der Ardariten. Den alten Seneschall Dapifer von Arivor zwickten die Zipperlein allzu arg. Der Meister des Bundes im Neuen Reiche, Ritter Wallmir von Stÿringen, reiste im Gefolge des Erhabenen auf den Rhodenstein.
Am gleichen Tage auch forderte der Hohegeweihte des Bornlandes , der eigensinnige Baron von Halsingen, Einlass auf die Feste. Seitdem Kaiser Reto eine Nacht auf der Burg verweilt hatte, war dort nicht mehr eine so edle Schar zusammengekommen. Der alte Burgsass Norre von Bjaldorn scheute nicht Mühe und Aufwand, die Gastgemächer der Burg und die hohe Halle aufs Schönste herzurichten. Banner und Schilde der Meister des Bundes und des Erhabenen prangten überall an den steinernen Wänden in den Gängen, Gelassen, Hallen und Sälen. Warme Feuer prasselten in den Rauchfängen der alten Halle und der Schlafgemächer, damit die edlen Herrschaften es auch recht gemütlich hätten.
An der Längswand des gewaltigen Ratssaales – gut und gern dreimal zehn auf zwölf Schritt – war der Thron des Schwertes der Schwerter aufgebaut auf einer Empore. Davor standen in einem Halbkreis die Sessel der Meister des Bundes oder ihrer Gesandten, angeordnet rund um einen wuchtigen Ratstisch. Der Thron des Erhabenen war wundersam schön: Ganz und gar aus schimmerndem, weißem Mondsilber war der Stuhl geschmiedet. Gut zwei Schritt hoch ragte die Lehne, darauf war aus rotem Seidenfaden eine aufrechte, krallenbewehrte Leuin gewebt. Von silbrigen Lanzen waren die Armstützen eingefasst, von vier silbernen, feuerspeienden Leuen ward der Thron getragen. Und überall waren fauchende und streitende Löwinnen eigens in den Thron hineingeschmiedet, um das heilige Geschöpf der Göttin zu preisen.
Über dem Marschallsstuhle, in sechs Schritt Höhe an der wappenverzierten Kranzleiste, hing an einem Flaschenzuge der herrliche Thronhimmel: Silberne Löwen, die allen Feinden dräuten und über ihren Herrn drunten auf dem Throne wachten, fanden sich auch dort an allen vier Ecken, dazwischen waren Sammet und Seide in rot und silber zu einem verwirrenden, heiligen Muster geknüpft. Viele hundert Stein wog der Baldachin, der aus Perricum eigens herbeigeschafft worden war. Kaum vermochten Haken, Ösen und Flaschenzug, denselben zu tragen.
Ringsum an den felssteinernen Wänden hingen die Wappenschilde der Erhabenen, angefangen von Heroderich von Shamaham, dem Gemeuchelten, hin zu Dragosch von Sichelhofen. Zur zwölften Stunde des neunundzwanzigsten Boronmondes – die Meister des Bundes, die Gesandten der Sennen und Baronin Ayla hatten sich bereits in der hohen Halle versammelt – kündeten drei Hörner vom Erscheinen des Erhabenen. Meister Dragosch, der Schöne, längst gewaschen und geheilt von den Unbilden der letzten Schlacht, war angetan mit einem blutroten Gewande aus Satin, das bis zum Boden hinab reichte. Aus Ärmeln und Kragen ragten Klöppeleien hervor, vollendet gewebt aus einem einzigen Silberfaden. Über dem Herzen, von den mächtigen Schultern herab, trug er eine überderisch blitzende Kette aus Titanium, woran die Leuenfibel der Erhabenen vor dem roten Wamse wunderschön schimmerte. Der Satin rauschte, als das Schwert der Schwerter zu seinem Marschallsstuhle schritt - und als er darinnen thronte, war’s, als sei Meister Dragosch dafür geschaffen und zu keinem anderen Zwecke. Hinter dem Schwert der Schwerter führte sein Schildknappe den sagenumwobenen und gefürchteten Zweihänder Ferlian. Ein alter Ritter trug den güldenen Löwenhelm auf einem roten Kissen. Starr vor Staunen standen wir alle. “Wir heißen euch, ihr Meister der Sennen, Gesandte des Bundes, an Unserm Hofe willkommen”, sprach Meister Dragosch. Er reichte die Klinge Ferlian allen Geweihten zum Kusse, Frau Bibernell aber, seine Waffengefährtin aus früheren Tagen, umarmte er. Und im Alttulamidischen, der ursprünglichen Sprache der Kämpfenden Kirche, gemahnte er die Versammelten an die zwölf ewig gültigen Gebote der Leuin, nämlich nicht von rücklings zu fechten oder von der Seiten oder mit unrechten Waffen ...

Er erzählte ihnen auch von der ersten Offenbarung der Göttin Rondra, die im alten Garethi im Rondrarium geschrieben steht:
Am Thage Frauwen RONdra, alsz vor vielen Götterlaufen die ersten Leuth aus dem fernen Guldenlandt auf Alveranthürn anlangten, war daz Lieblich Feldten ein verwünschenes Landt, daz noch kaum ein klüglich Wesen zuovor geschauet hatt – allein Fuldigor hauste in den Gulden-Felsen – und vielerleien wildt Geschöpf sprangen über Felder, Wiesen unt Wälder: Sintemalen die Leuin, die Königin alln Gethiers unt Gefleuchs./ Da aper warn unter den Guldenländlern die, die schlau warn und tapfer warn; die fühleten sich den Löwen gleich unt denen über, die feig und verschlagen in ihren Häusern warn./ Da aper that sich MYThrael, der Himmelsleu, dem kundt, der GERon hiesz, als mächtig Leu in dunkelm Walde, grad alsz der Recke in ein lieblich Feenseen schwamm. Des Manns Schwertklinge war ferne unt er trat dem Löwen entgegen, blosz wie er war. Der Leu brüllte und bisz und schlug mit den Prancken, und fürewahr risz er des Recken rechte Handt vom Gliede, – GERon aper würgete dasz gewaltige Thier, und endtlich vermochte keiner, den andern zuo bezwingen./ Da aper sprach der ALVeraniar in andrer Gestalten zu GERon: Er that ihm Frauwen RONdras Sein kundt, gab ihm das gulden Schwerte Siebene Streich unt hiesz ihn, von der HERrin in alln Landten zuo künden unt zuo vollführen im Zeichen Frauwen RONdras, wozuo das heilig Schwerte von Herrn PRAjos geschaffen, - dabei hatte der Recke doch allein die linke Handt noch!/ Da aper ritt GERon von dannen, erschlug alles Ungetüm und baute Frauwen RONdra dorten eine Hallen, wo er MYThrael erstmal getroffen und wo heuer Arivoren sich in den Himmel hebet./ Als er diez aper alles vollführet, da wuchs ihm wundersam am rechten Gliede eines Leuen Klaue./ Und er ging hin unt focht mit der Linken und Sieben-Streich, dem himmlischen Schwerte.

So sprach Meister Dragosch auf seinem Throne, und wir alle lauschten gebannt den alten Sagen. Nach einer geraumen Weile hob der Erhabene von neuem an, und diesmal plauderte er auf ungezwungene Weise. “Wir bedauern von Herzen, dass Eminenz Donnerhall die Zeit nicht fand, – und wünschen zugleich dem alten Seneschall, den wir schätzen und lieben wie unsern eigenen Vater, dass er alsbald zu neuen Kräften kommen möge. Wir wollen Fürbitte halten für den edlen Herrn”, sagte er. “Gleichwohl: wie dem auch sei. Wir haben euch, unsere Freunde und Räte, zusammengerufen in diesen stürmischen Tagen, um euch Kunde zu geben von einer schmerzlichen Niederlage, vom Tode unserer besten Ritter” – und auf ein weiteres erzählte er die Geschichte des Gemetzels in der Alten Klamm, verschwieg aber wohlweislich den Geist des Hengisforters – “und davon, dass Wir für gut und recht halten, einen Heerzug zu rüsten. Und dies zu keinem andern Behufe, als den Sündenpfuhl Khezzara vom Dereland auszulöschen.” Allen seinen Abscheu und alle seine Verachtung hatte Meister Dragosch in diese Worte gelegt. Auch wiederholte er vor den Hohegeweihten die Schreckensbilder, die er seinen Ordensschwestern und -brüdern in der Alten Klamm in düsteren Worten ausgemalt hatte. Die Frauen Arabel, Ayla und Bibernell nickten und griffen nach ihren Schwertern.
Am Tage des Feuers, wenn des Schwerts Zeichen steht,/ Der Herr der Marken kühn mit dem Schwerte hergeht./ Die Lande gehalten, der Orken Bann gespalten,/ Mit der Göttin Gnade entflammten Gewalten.
  So sangen sie. Schwertbruder vom Rathilstein aber schaute nachdenklich und sprach auch alsbald: “Erhabener”, sagte der alte Recke, “dies ist nicht Eure erste Schlacht gewesen, wohl aber das erste Schlachtfeld, das Ihr als Geschlagener floht. Es ziemt sich für das Schwert der Schwerter nicht – Rondra vergib! –, in einen Hinterhalt zu geraten wie der gemeine Mietling. Zu allem Übel seid Ihr aus der Klamm geprescht und habt euer Heil in der Flucht gesucht wie ein junger Knappe. Mein Marschall, Ihr bringt der Kirche kein Glück, – ich will euer Tun nicht gutheißen. Wo in diesen Praiosläufen die Mär geht, ein Daimon sei übers Weidenland gefahren, da mögt Ihr nicht zu einem Schwertmarsch ins Orkenland rüsten.”
“Mein Freund spricht wahr”, schloss sich der junge Drachwill Eisengrimm von Donnerbach an, “droben in der freien Stadt schätzen wir Euer Marschallsamt nicht übermäßig. Allzu leicht versteht es ein Heißsporn, die ganze Kirche ins Unglück zu führen. Ihr seid auf dem besten Wege: Euer Ritt nach Nordhag ist das trefflichste Exempel. Wir wünschten sehr, Ihr hieltet Maß in diesen Dingen, wie die schlauen Alfen das tun, denn ...”
“.. denn solange ein Rhodensteiner auf diesem Throne sitzt, wird die Orkenwehr der Donnerbacher Senne nicht zugeschlagen.* Was Meister Viburn Eurer Muhme Weiland versprochen hatte. Das wolltet Ihr doch sagen?” Der Erhabene sprach mit ungewöhnlich scharfer Stimme.
Eisengrimm verneinte lauthals. Aber er schaute zu Boden.
“Haltet ein, Erhabener”, bat der schlaue Schwertbruder besonnener, “der alte Zwist tut nichts zur Sache. Nichtsdestominder ist die Fürstin nicht gewillt, unsere geweihten Ritter und Knappen in ein sinnloses Unterfangen und den sicheren Tod zu schicken. Eure Schmach ist nicht so sehr die unsere. Hier im Reich finden sich die wahren Aufgaben der Kirche. Gleich Leomar, dem Heiligen ...”
“Da sprecht Ihr gut, Rathilstein, Rondras Treu. Auch im Bornischen sind wir wohl der Überzeugung, dass der Ork kaum mehr, das entherzte und verschlagene Gewürm und Rotgepelz leider Rondras aber um so eher eine Gefahr für die Zwölfgöttlichen Lande sind. Rondraunddonnerblitznocheinmal, ich ersuche Euch gleichfalls, mein Marschall”, der feiste Halsingen keuchte, kreischte mehr, denn dass er sprach – ja geradezu wand er sich unter seinen Worten, “von einem Schwertmarsche – den letzten hatten wir zur Bezwingung des Bornlands unter Gerbald dem Klugen, und wir wissen alle, was daraus geworden – abzulassen. Ihr vertut Gold und Zeit – erweckt fürder den Anschein, als stecktet Ihr mit Gevatter Hilberian unter einer Decke.” Rathilstein und Eisengrimm pflichteten bei.
“Nimmer!” rief die Dame Hengisfort. “Das waren auch niemals meines armen Oheims Absichten. Ihr seid ein kluger Mann, Rathilstein, und auch Ihr, Halsingen, aber Ihr verdreht und verwechselt das Heil der Kirche mit den Belangen Eures Fürstentums, bei der Leuin und meinem Schwerte. Ich will meinen Ruwar satteln und meine Klinge Rishal gürten und ... ich ...”
Meister Dragosch erhob sich. Die titanische Kette entglitt seinen Fingern. Aus seinem Antlitze war – mit einem Male – alle Farbe gewichen, todesbleich stand er da, die eben noch zornesblitzenden Augen starrten schreckgeweitet. Es schien, als wolle der Tannewetzel ihn treffen. Der Erhabene wankte. Sein Schildknappe musste ihn stützen. Weit hinter dem Ratstische, weit auch hinter den Gesandten der Sennen, nicht fern vom reichgeschnitzten Hallentore, stand der Geist. Marschall Hengisforts Geist. Es war dieselbe Gestalt, die wir in der Klamm gesehen hatten.
Er trug denselben, blutüberströmten Mantel. Ohne Zweifel war es das Gesicht des alten Viburn. Derselbe schüttere Schopf, dieselben blassen, müden Züge, wenn auch grauer noch und eingefallener als zuvor. Meister Viburn stand gestützt auf Waridtan, den Zweihänder seiner Weihe – und seines Grabes. Und stumm flüsterten seine bleichen Lippen drei Worte, immer wieder dieselben drei Worte. Langsam, ganz langsam, schickte er sich an, auf die Versammelten zuzuschreiten. Und während er da wandelte, hob er Waridtan Stück um Stück. Als der Geist endlich verharrte, wies das Schwert waagerecht auf die Wand der hohen Halle, auf irgendeinen Fleck rechts vom Throne. Von einem Augenblicke auf den nächsten ward es allen gewahr:
Waridtan deutete auf des Erhabenen Schild. Auf das goldene Löwenhaupt der Edlen zu Sichelhofen. Plötzlich, gemächlich gab die hanfene Schnur nach, Stück um Stück. Der Schild schaukelte auf und ab, hin und her, unschlüssig, ob er hängen oder fallen sollte. Endlich – nach einer unheimlich langen Weile – polterte er auf die steinerne Empore. Es war das donnernde Scheppern, das uns aus unserer Erstarrung riss.
“Er ruft mich!” gellten im selben Augenblicke die Worte der Frau von Schattengrund. “Der Schatten, er ruft mich!”
Es stimmte. Die Geweihte sprach wahr. Ayla von Schattengrund lauteten die Worte, die die bleichen Lippen des Ruhlosen lautlos formten. Der Geist verschwand, als Waridtans finstere Klinge wieder auf die die alten Eichenplanken zeigte.
Ins Nichts, dorthin, woher er gekommen, ins Paradies der Göttin. Wer schon weiß das? Das Unglück aber war geschehen. Weitere Augenblicke verharrten wir in unheimlicher Stille. Drachwill von Donnerbach war der erste, der sprach. Er sprach nicht, er schrie. “Ihr Meuchler”, schrie er, und seine Stimme überschlug sich. “Ihr Mörder, Ihr ...” “Schweigt!” zischte der Erhabene hasserfüllt. Eisengrimm gehorchte. “Halten zu Gnaden”, fuhr Sichelhofen nicht minder dräuend fort, “dass Wir das Schwert der Schwerter sind. Und Wir gebieten Euch von Unserm Throne – und so wahr Ferlian Unser Schwert sei – zu schweigen. Allein Euch, Frau Ayla, gilt das Recht zu reden”, sagte er nach einer Weile. Es klang fast spöttisch. Die Geweihte erhob sich so rasch, dass ihr Stuhl umstürzte. Ihr Antlitz war zornesrot, das blonde, wallende Haar wehte im Schwunge ihrer Bewegung. Die grünen Augen blitzten. Eiridias, das ihr Schwert war, gleißte in ihrer Rechten.

“Ich klage Euch an vor der Leuin zu Alveran, Dragosch Aldewîn von Sichelhofen”, rief sie, und sie nannte ihn nicht bei seinem Schwertnamen Ferlian, “ich klage Euch an des Mordes am Schwerte der Schwerter, klage Euch an der verderbten Lüge und der feigen Flucht, bezichtige Euch des Verrats am Freunde und Vater, am ...” “Halten zu Gnaden”, sprach Sichelhofen auf ein weiteres, und diesmal klang es bitter, “dass Wir das Schwert der Schwerter sind, und ich befehle Euch von meinem Throne und mit allem Rechte: Haltet ein! Verstummt und setzet Euch! Es obliegt Euch nicht zu klagen, sondern allein die Wahrheit zu nennen. Es obliegt allein Euch zu klagen, die Meister des Bundes sind.”
Denn nach altem Gesetz vermögen allein die Meister des Bundes, Recht über das Schwert der Schwerter zu sprechen. Es war die Macht seines Wortes, das die Kirche rettete. Denn hätten sie ihn erschlagen, dann wäre die göttingewollte Ordnung ein für allemal zerstört gewesen. Nimmer hatte eine Geweihte einen Geweihten gemeuchelt. Auch nimmer aber hatte ein Schwert der Schwerter gelogen.
Es war Bibernell von Hengisfort, die alte Freundin, die den Anfang machte. “Ich klage an, im Zeichen der Senne Baburins”, sagte sie leise. Tränen rannen ihr über die Wangen. “Ich verlange Euren Tod”, fauchte Halsingen. “Ich vergebe und will keine Klage äußern.” Dies sagte die Dame Arabel, und sie lächelte. “Mein Marschall, auch ich will Euch die Treue halten.” Das war der schweigsame Herr von Stÿringen. “Ich zeige an im Namen Arivors, der heiligen Stätte”, sprach ya Torese. Es waren die ersten Worte, die er sagte. Aber er wählte sie bedachtsam.
Meister Dragosch nickte, denn der tapfere Komtur war nicht Meister des Bundes. “Wir führen Klage für die Senne Donnerbachs”, stieß der junge Eisengrimm hervor, endlich und als letzter. Wiederum gab der Erhabene sein Einverständnis und besiegelte damit sein eigenes Schicksal. Es würde einen Zweikampf geben um Leben und Tod. Was Dragosch von Sichelhofen im einzelnen verbrochen oder nicht, war nur mehr gleichgültig.
Schwertbruder Thundra, der Gelehrte, entsann sich eines alten Gesetzes: “Ihr seid für schuldig befunden, Wohlgeboren. Ich spreche Euch darob das erste Recht ab, Euch Schwert der Schwerter zu heißen, und das zweite Recht, Euch Meister des Bundes zu nennen. Im Falle Ihr gewinnet dies Gefecht – was die Leuin verhüten möge! – mag das alles sein. Im Falle Ihr verlieret dies Gefecht oder fliehet oder erweiset Euch als ehrlos vom ersten Streiche an, dann mag Euch auch das dritte Recht verlustig gehen, ein gemeiner Geweihter zu sein. Keine Schwertweihe sollt Ihr vollführen, keinen Segen sprechen, den Namen der Göttin nicht im Munde führen, keinen Zweikampf fordern und keinen gewähren dürfen. Denn nichts anderes verdient Ihr.” Die andern gaben ihr Einverständnis, selbst Meister Dragosch, der sich das letzte Recht ausbedingte, nach der Sitte der Erhabenen Weise, Ort und Zeitpunkt zu bestimmen. Auch wollte er aus seinen bisherigen Schwertern seine Waffe wählen dürfen. Dank der Fürsprache Frau Arabels wurden ihm diese Wünsche gewährt. Dragosch von Sichelhofen entschied, eigenhändig fechten zu wollen. Nicht Ferlian sollte sein Schwert sein, sondern Lirondiyan. Er liebte die Orkenwehr. Mit seinem Senneschwert war er willens, sich zu verteidigen. Er entschied auch, dass das Gefecht zur selben Stunde noch und in diesem ehrwürdigen Ratsgemache ausgetragen werden sollte. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Ayla von Schattengrund ward zur Streiterin der Sennen bestallt. Unter seinem roten Gewande trug Meister Dragosch Kettenhemd und Brünne, als hätte er gewusst, wie es kommen würde. Sie führte den ersten Schlag. Fast spielerisch drehte sie sich einmal um sich selbst. Schnell und lautlos, wie ein Windmühlenflügel, flog Eiridias durch die Luft, züngelte die geflammte Klinge nach dem Haupte des Erhabenen. Gerade noch zur rechten Zeit hob er Lirondiyan zur Wehr. Funken sprühten. Dragosch von Sichelhofen stand da, als träumte er. Frau Aylas zweiter Streich traf. Von oben herab schlug sie, grell barst das Kettenhemd unter ihrem Schlage. Tief schnitt die Schneide in Meister Dragoschs linkes Bein. Der schiere Schmerz riss ihn aus seiner Gleichgültigkeit. Mühsam keuchend wuchtete er das Lirondiyan über sein Haupt. Frau Ayla tat’s ihm gleich, stets auf der Hut. Hoch droben trafen die beiden Schwerter aufeinander, glitten aneinander ab. Das Antlitz der Baronin aber verzerrte sich vor Schmerz und Anstrengung, so kraftvoll war der Schlag des Recken gewesen. Wut und Furcht waren nur mehr in seinen Augen zu lesen. Er kämpfte wie ein Besessener, achtete gar nicht auf die klaffende Wunde in seinem Schenkel. In rascher Folge hob er das Lirondiyan hinauf in die Lüfte und ließ es auf die tapfere Geweihte herabsausen. Frau Ayla wehrte sich, so gut sie es vermochte – dem Zorne Dragoschs aber, der gewahr wurde, dass er um nicht weniger focht als das Recht, den Namen der Leuin im Munde zu führen, war sie nicht gewachsen. Es dauerte nicht lang, da trieb er, der Hinkende, sie vor sich her wie ein Laub im Winde. Er drängte und zwang sie um den Ratstisch herum, an den Schauenden vorüber, hin zur Empore, verhinderte alle Ausflüchte der Baronin – wollte sie weichen, holte er aus wie ein Sensenmann nach links und nach rechts, duckte sie sich, schlug er nach unten, sprang sie, schwang er keuchend das Lirondiyan über seinem Kopfe ... Endlich stand sie rücklings zum Throne. Gleichwohl unverletzt, denn sie war eine Meisterin des Schwertes – vermochte sie auch dem Zorne des Erhabenen nichts entgegenzusetzen, so doch den wilden Schlägen im einzelnen. Für einen Augenblick standen sich die Kombattanten gegenüber, ohne sich zu rühren. Gerechter Zorn war ins Antlitz der Frau von Schattengrund geschrieben – Verzweiflung und Furcht in Meister Dragoschs Gesicht. Schließlich senkte er den Blick, der Schuldige. Im nächsten Augenblicke schlug er eine Finte in all seiner Wut. Frau Ayla fiel über den Thron des Erhabenen – noch immer aber war ihre Klinge zur Wehr bereit, noch immer vermochte er nicht, seine Gegnerin zu bezwingen. Vor der Winde des Thronhimmels stand Brin, der Schildknappe. In seinen Händen hielt er Ferlian, den Zweihänder. “Fort, Knabe!” zischte das Schwert der Schwerter, kaum vernehmbar – so sehr schmerzte ihn der Stich im Beine. Im selben Augenblicke schon beschrieb das Lirondiyan ein gleißendes Rund. Meister Dragosch schickte sich an, die Winde zu zerschmettern. Er wollte Frau Ayla, die Unbezwingbare – aber Wehrlose –, feige erschlagen in seiner Not. Viele hundert Stein wog der Thronhimmel. Brin, der Schildknappe, stand starr vor Schrecken und Erkennen. Er rührte sich nicht vom Flecke, denn der Rondra-Geweihte soll nicht fechten mit unrechten Waffen. Der Streich würde ihm das Haupt vom Rumpfe trennen.
Im letzten Augenblicke riss Herr Dragosch Lirondiyan vorm Halse des Jungen – vor der hölzernen Winde, an der der Thronhimmel hing – in die Höhe. Allein die scharfe Spitze des alten Zweihänders schlug auf die rostige Kette, die den Baldachin trug – unweigerlich. Funken stoben. Der Thronhimmel schwankte, aber er fiel nicht.
Meister Dragosch unternahm keinen weiteren Versuch, Frau Ayla zu besiegen. Als ihm Eiridias in die Seite fuhr, lächelte er. Als er vornüber kippte – die Knie gaben ihm nach, denn das linke Bein vermochte er nur noch zu schleifen –, presste er die Hände auf den tiefen Schnitt, Blut quoll hervor. Aschfahl und reglos – mit geschlossenen Augen – lag er da. Sein Leben färbte die alten Eichenplanken rot. Frau Ayla ließ ab.  
Frau Arabel, die Gutherzige, und Brin, der Schildknappe, waren die ersten gewesen, die neben dem Gefallenen niederknieten und sein Haupt auf ihren Wämsern betteten. Zwei lange Praiosläufe noch – angetan mit einem weißen Büßergewande – siechte Dragosch Aldewîn von Sichelhofen dahin. Nicht einmal öffnete er in der ganzen Zeit die Augen. Frau Arabel und Frau Bibernell, auch die treue Ordensmeisterin Sariya von Donnerbach, hielten unablässig Wacht an seinem Bette. Wir anderen wandelten unablässig durch die Gänge der Burg, unschlüssig, was zu tun sei, und gedrückter Stimmung. Kein einziges Lachen war zu vernehmen. Die Meister des Bundes hielten Rat immer und immer wieder, aber sie gelangten zu keinem Entschlusse. Das Horn Fantholi kündete von der Ankunft des Herzogs der Weidener. Allem zum Trotze wollte er seinem getreuen Ritter das letzte Geleit gewähren. Als der Atem des Sterbenden nur noch langsam und rasselnd ging, rief Frau Sariya uns in das heimliche Gemach des Herrn. Todesbleich – weißer noch als Gewand und Bettuch – lag Dragosch von Sichelhofen auf seinem Sterbelager. Im Rauchfang flackerte ein loderndes Feuer - viel zu warm und stickig war das kleine Gelass. Es stank nach Tod und Verderben, unerträglich süßlich. Eine Stunde lang standen wir schweigend da. Herzog Waldemar und die Meister des Bundes nahe um das Bett herum, wir andern an den Wänden und auf dem Gange. Endlich öffnete der Erhabene die Augen – ein letztes Mal. Sein Blick war brüchig, verschwommen von den ewigen Schatten, die seiner harrten – mühsam rief er Brin, den Schildknappen. “Der du mich im heiligen Augenblicke fandest”, flüsterte er. Still weinend trat der Jüngling herbei aus seiner dunklen Ecke, vor dem Bette fiel er auf die Knie. “Mein Marschall”, sagte er leise und ergriff des Sterbenden schwache Hand.   Eine Zeitlang lauschte der Knappe seinem Herrn. Alsdann legte der Erhabene ihm kurz die zittrige Hand auf den Scheitel und hauchte den alten Segen.  
Dragosch Aldewîn von Sichelhofen verschied zur zweiten Phexenstunde am ersten Tage der Hesinde im Götterlaufe tausendundsechzehn, in seinem dreiundvierzigsten Winter. Alle Verzweiflung war aus seinem Antlitze gewichen. Leise lächelte er. Es war Brin von Rhodenstein, der ihm die Augen schloss und die Hände auf der Brust faltete. Sie umfassten Aldewîn, das Schwert seiner Weihe und seines Grabes.
Vor Waldemar, dem Herzog, fiel der Knappe auf die Knie: “Meister Dragosch bittet Euch, guter Herr, ihm gutherzig vergeben zu wollen und unserm Orden. Er hat unentwegt und gegen seinen Tod Buße getan in allen zwei Tagen. In seinem Geiste hat er gegen das Madamal im Helme gefochten und mit den wilden Leuen gerungen. Es war wie in früheren Tagen.” Der Herzog nickte. In väterlicher Anwandlung ließ auch er seine mächtige Hand kurz auf dem Scheitel des Jungen ruhen. Brin von Rhodenstein erhob sich. Seine Stimme schallte laut und weitum vernehmbar: “Meister Dragosch bittet auch, auf dem Rhodenstein – neben seinem Freunde Herdan, dem alten Waffenbruder und Weggefährten – begraben zu werden. Er fürchtet Perricum und will dorthin nicht getragen werden. Ein Gutteil seiner Schuld, sagte er, sei in den Drachensteinen verborgen. Dorthin sollen wir reiten und die liebliche Gefangene aus dem hohen Turme holen. Er sagte ferner, und ich glaube, dass er wahr sprach, den alten Erhabenen nicht gemeuchelt zu haben. Der zweite Teil seiner Schuld lag in seiner schmählichen Lüge … Der dritte Teil all seiner Schuld war seine Furcht im Angesicht der Ehrlosigkeit, die ihm im letzten Gefecht auferlegt. … Seine letzten Worte galten Euch, edle Frau von Schattengrund – Ihr sollt sein Schwert der Schwerter.” »Es segne uns Rondra, die Herrin des Krieges, es bewahre uns Rondra, die Beherrscherin des Sturmes, es erleuchte uns Rondra, die herrliche Löwin der Zwölfe. Es stärke uns die Kraft des gleißenden Stahles Ayla Eiridias von Schattengrund und unser Glaube, der als eherner Schild vor uns steht. Dein Wille, o Herrin, sei unser Befehl.« An den Worten des Knappen Brin zweifelte niemand. Ayla, die Baronin von Schattengrund zur Mark Windhag, ward das neue Schwert der Schwerter, die Marschallin des Bundes, Schild und Wehr der Zwölfgöttlichen Lande. Der junge Brin wurde auf Ratschluss von Erhabener und Herzog zum Meister des Bundes der Orkenwehr bestallt. Die Schwestern und Brüder des Heiligen Ordens zur Wahrung – ratlos und verwirrt ob alledem – erhoben keinen Einspruch. Am siebenten Hesindemond wählten sie den Ritter Brin von Rhodenstein, ehedem Schildknappe des Schwerts der Schwerter, zum Abtmarschalle auf dem Rhodenstein. Zur Buße aller Schuld ward dem lehrsamen Orden befohlen, aus seinen Schriften ein Compendium über das Herzogentum Weiden und die Orkenwehr zusammenzutragen.

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