Osmanische Trostwallfahrt

Nach dem Tod eines Sultans oder einer Sultana müssen die nächsten Verwandten (Eltern, Kinder, Partner, Geschwister und Schwager) die neunstationige Trostwallfahrt antreten. Das verschafft ihnen einerseits ablenkende Erlebnisse an spirituellen Orten, gibt Gelegenheit zum Lesen und Beten, andererseits ermöglicht es dem Hof, alle nötigen Umbauten ungestört durchzuführen, die sich aus dem Herrschaftswechsel ergeben. Während der Wallfahrt verwaltet der Großwesir das Reich, sind Kriege verboten (laufende Kriege werden mit einem sofortigen Waffenstillstand unterbrochen) und werden keine ausländischen Delegationen offiziell empfangen.
Das Reiseandenken ist das neuneckige Osmanische Trostamulett aus Glas.

Geschichte

Wallfahrten haben eine lange Tradition im sunnitischen Islam, aber erst in Kombination mit der beginnenden Restauration der Osmanischen Monarchie in Istanbul wurde das Ritual der Trostwallfahrt kodifiziert und das formal festgelegte Osmanisches Trostamulett entworfen. Zum ersten Mal 1944 nach dem Tod von Abdülmecid II. in Paris erfolgte eine solche Wallfahrt, die es der sultanischen Familie, damals noch im Exil, ermöglichte, Nordafrika, Griechenland und auch die Türkei zu bereisen unter dem Vorwand des Trauerrituals, das als letzter Wille Abdülmecids ausgegeben wurde.
Seither wurde bei jedem weiteren Sultanstod eine solche Wallfahrt abgehalten (Sultana Şehsuvar Hanım 1945, Sultan Ahmet Nihad Osmanoğlu 1954 und Sultana Safiru Hanım 1956) und ein entsprechendes Amulettkontingent angefertigt.

Durchführung

Die Trostwallfahrt beginnt immer in Istanbul, wobei am Pier je ein Trauergottesdienst durch den Großimam von Istanbul geleitet wird, den ökumenischen Patriarchen und griechisch-orthodoxen Erzbischof von Istanbul sowie den armenischen Patriarchen von Istanbul. Danach setzt sich das Schiff der sultanischen Familie (und eine beliebige Anzahl von Begleitschiffen) in Bewegung:
Erste Station
Von Istanbul nach Athen reist die Gesellschaft mit dem Schiff, von dort mit einem Sonderzug nach Olympia, um am Fuß des Olymp die erste Traueraktivität, nämlich eine Besichtigung der Ruinen der Sportanlagen und des Tempels, sowie einen Waffenlauf zu absolvieren. Anschließend wird die Zeus-Statue in Olympia mit Schwanenfedern beworfen und vor der Statue ein Trauermahl eingenommen.
Zweite Station
Von Athen geht es mit dem Schiff nach Rhodos, wo am Fuße des Koloss von Rhodos zwei Trauerfeuer entzunden werden.
Dritte Station
Die Schiffsreise führt anschließend von Rhodos nach Alexandria in der osmanischen Provinz Ägypten, wo auf dem Leuchtturm ein weiteres Trauerfeuer entzündet wird.
Vierte Station
Mit einem Sonderzug geht es von Alexandria nach Kairo, wo an den Pyramiden von Gizeh ein Trauergottesdienst und die Beisetzung einer Scheinmumie vollzogen wird, und anschließend bei einem Besuch der Al-Azhar-Moschee eine dreistündige Predigt über den Glauben an das jüngste Gericht angehört wird.
Fünfte Station
Mit dem Sonderzug geht es dann entlang der Küste von Kairo nach Kairouan in der osmanischen Provinz Tunesien, wo in der Großen Moschee von Kairouan ein weiterer Trauergottesdienst stattfindet.
Sechste Station
Mit dem Zug geht es zuerst zurück nach Tunis und von dort mit dem Schiff durch den Suezkanal bis nach Mekka, wo die großen Gebete und Zeremonien zur Trauer abgehalten werden.
Siebente Station
Von Mekka geht es mit einem Sonderzug auf der Hedschasbahn nach Medina, wo es weitere Trauergottesdienste gibt und einen Entspannungsaufenthalt von einer Woche, um im Lehrhaus des Propheten erbauliche Schriften über den Tod und das jüngste Gericht zu lesen und gemeinsam auszulegen.
Achte Station
Mit dem Zug wird die Reise nach Jerusalem fortgesetzt, wo es eine Reihe offizieller Gebete, Predigten und Disputationen in der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom gibt
Neunte Station
Von Jerusalem fährt der Sonderzug bis Aleppo, wo auf die Bagdadbahn umgeschient wird, um im historischen Babylon in den Neuen Hängenden Gärten eine Woche des Friedens bei Gebeten und Lesungen in der Natur zu verbringen.
Zehnte Station
Von Bagdad geht der Weg mit dem Sonderzug weiter nach Bodrum, um am Mausoleum von Halikarnassos eine Scheinbestattung vorzunehmen und den Gesang griechischer Klageweiber ertönen zu lassen, bevor in der Moschee gebetet wird.
Elfte Station
Mit einer Karawane wird die Wallfahrt von Bodrum bis Ephesus (Selçuk) fortgesetzt, wo es auch eine Hofjagd gibt, mit deren Beute ein Trauermahl zubereitet wird. In Ephesus wird speziell der Mütter und Großmütter des Verstorbenen gedacht.
Rückkehr
Von Selçuk wird mit einer Karawane gemütlich der Rückweg nach Istanbul angetreten, wo nach der glüklichen Ankunft in der Hagia Sophia-Moschee ein Dankgebet stattfindet. Im Anschluss gibt es einen Empfang, bei dem alle Teilnehmenden an der Trostwallfahrt ein eigens angefertigtes Trostamulett erhalten, das vor Dämonen und Geistern schützt und die Teilnahme an der Wallfahrt bestätigt.
Gesamtfahrzeit: ist ca. 50 Tage
Gesamtreisezeit: ist genau 90 Tage, ggf. wird vor Istanbul noch etwas verlangsamt, um die exakten 90 Tage auszufüllen.

Teilnehmer

  1. Hauptrolle spielen verständlicherweise die trauernden Angehörigen der Sultansfamilie.
  2. Von zweitem Rang der Teilnehmenden sind die islamischen Gelehrten, die Trostpredigten halten und erbauliche Geschichten anbieten.
  3. Der dritte Rang gebührt den neun mit einem begehrten Wallahrtsbillet eingeladenen Personen
  4. Der vierte Rang kommt gemeinhin jenen adeligen und bürgelichen Personen zu, die auf eigenen Wunsch (und eigene Kosten) an der Trostwallfahrt teilnehmen.
  5. Nicht zu vergessen ist die Dienerschaft von persönlichen Confisseuren bis zu Kohleschauflerinnen und Gepräckträgern, die trotz ihrer Dienstfertigkeit als vollwertige Wallfahrtsteilnehmer gelten und daher am Ende auch ein Trostamulett erhalten.

Einhaltung

Jedes Mal nach dem Tod eines Sultans oder einer Sultana werden die unmittelbaren Verwandten (Eltern, Kinder, Partner, Geschwister und Schwager) auf die Trostwallfahrt geschickt. Weitere Adelige und Monarchiesympathisanten, die es sich leisten können, bemühen sich, in die Wallfahrtsgruppe aufgenommen zu werden, sei es aus echter Trauer, sei es, um sich für künftige Hofämter einzuschleimen oder Hochzeiten für die eigenen Kinder anzubahnen.
Einen besonderen Status haben jene, die eines der sogenannten neun Wallfahrtsbillets von der sultanischen Familie erhalten, denn diese Personen werden zur Teilnahme ausdrücklich eingeladen, was eine hohe Ehre bedeutet. Die Kosten der Reise müssen sie selbstverständlich für sich und ihre Dienerschaft selbst bezahlen, es wird auch erwartet, dass sie eine großzügige Spende in die allgemeine Wallfahrtskasse legen, um auch minderbemittelten Teilnehmenden Mittag- und Abendessen zu bezahlen.
Primary Related Location
Important Locations
Related Organizations
Fünf Pressestimmen zur ersten Trostwallfahrt im Jahr 1944
Gazette des Osmanischen Erbes, gedruckt in Paris
„Die Trostwallfahrt zu Ehren unseres geliebten verstorbenen Sultans und Kalifen Abdülmecid II. ist ein beeindruckendes und tief spirituelles Ritual, das den gläubigen Respekt und die unzerstörbare Einheit der ganzen osmanischen Gemeinschaft widerspiegelt. Diese heilige Reise, die unsere reiche Geschichte und unsere spirituellen Wurzeln ehrt, bietet den trauernden Angehörigen Trost und Erbauung. Der tiefe Glaube und die Hingabe, die in jeder Station dieser Wallfahrt gezeigt wurden, sind ein Zeugnis für die Stärke und den Zusammenhalt unseres Volkes. Möge der Sultan in Frieden ruhen und seine Familie in diesem heiligen Ritual Trost finden. Lang lebe unser neuer Sultan Ahmed IV.“
Cumhuriyet, gedruckt in Ankara
„Die sogenannte Trostwallfahrt der osmanischen Monarchenfamilie ist ein offensichtlicher Versuch, veraltete und rückständige Traditionen wiederzubeleben, die in unserer modernen, republikanischen Türkei keinen Platz haben. Dieses übertrieben pompöse Ritual lenkt von den wahren Herausforderungen ab, vor denen unser Land mitten im Krieg steht. Anstatt in die Zukunft zu blicken und Fortschritt an der Seite Deutschlands und des Iran, Japans und Indiens zu suchen, klammern sich diese verbrecherischen Exilanten an vergangene Zeiten, die von Ausbeutung, Unterdrückung und Aberglaube verdunkelt waren. Die Zeit und Ressourcen, die für diese Wallfahrt aufgewendet werden, hätten die ewig gestrigen Oligarchen viel sinnvoller für den Aufbau und die Stärkung unserer Armee investieren müssen. Sobald der Krieg gewonnen ist, wird die Strafe für diesen verschleierten Putschversuch folgen.“
Pravda, gedruckt in Moskau
„Die sogenannte Trostwallfahrt der osmanischen Monarchisten ist ein weiteres Beispiel für die dekadente Verschwendung und den veralteten Feudalismus, der in einer sozialistischen Welt keinen Platz mehr hat. Während die werktätigen Massen der Welt für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen, verschwendet diese reaktionäre Familie Zeit und Ressourcen auf nutzlose Rituale. Es ist unerlässlich, dass die Völker der Welt sich von solchen feudalen Überbleibseln befreien und sich dem Aufbau einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft zuwenden. Allerdings muss auch die Partei eingestehen, dass die Familie sich klar auf der Seite der Alliierten positioniert hat. Wenn sie die Arbeiter- und Bauernarmeen in Nordafrika unterstützt, wird man im Sinn der Revolution überlegen müssen, wie es in der Türkei nach dem Sieg weitergehen wird.“
Le Monde, gedruckt in Paris
„Die erste Trostwallfahrt der osmanischen Monarchenfamilie, die nach dem Tod von Sultan Abdülmecid II. in Paris begann, hat in Europa viel Aufsehen erregt. Diese Reise, die eine sehr innovative Neuschöpfung osmanischer Reaktion ist, bietet einen faszinierenden Einblick in die spirituellen und kulturellen Praktiken des Orients. Während einige diese Wallfahrt als anachronistisch betrachten mögen, kann man nicht leugnen, dass sie eine bedeutende Rolle für die trauernden Angehörigen spielt und eine bemerkenswerte Verbindung zu ihrer Geschichte und ihrem Glauben darstellt. Es bleibt abzuwarten, wie diese Tradition in der modernen Welt Bestand haben und welche Rolle Paris darin spielen wird. Viel wird vom Ausgang des Krieges, in dem die Familie bei aller diplomatischen Vorsicht, den Frieden zu fairen Bedingungen anstrebt, abhängen.“
Völkischer Beobachter, gedruckt in Berlin
„Die sogenannte Trostwallfahrt der osmanischen Exilfamilie ist ein Sinnbild für die Dekadenz und den Verfall einer einst mächtigen asiatischen Dynastie. Diese abergläubischen Rituale sind ein Versuch, die verlorene Herrlichkeit unseres unverläßlichsten Bündnispartners im Ersten Weltkrieg wiederherzustellen, während die Welt sich in Richtung unserer neuen Ordnung bewegt. Solche traditionellen und archaischen Praktiken haben in der modernen Welt keinen Platz und sind ein Zeichen der Schwäche und Verzweiflung. Das deutsche Volk sieht klar, dass der Fortschritt und die Stärke unserer Nation in der Abkehr von solchen überholten Bräuchen liegen und im gemeinsamem Kampf mit der Republik Türkei, um vom Bosporus bis zum Suezkanal unsere Feinde zu zertrümmern.“


Cover image: by Racussa mit DALLE

Kommentare

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Aug 20, 2024 21:10 by Deleyna Marr

Ich liebe die Reaktionen der verschiedenen Länder auf die Pilgerfahrt. Alles zu wahr! Schöne Kunst.

Deleyna
Aug 21, 2024 11:42 by Racussa

Danke für die freundlichen Worte; oft haben tröstliche Rituale ja diese Ambivalenz von Selbstbestärkung zu Selbstbetrug hin; in diesem Fall kommt dann gleich auch noch ein bisschen Intriganz, Eitelkeit und politischer Änderungswille hinzu.

The world is not enough.
Aug 20, 2024 23:15 by Secere Laetes

Völkischer Beobachter, irgs. Aber ja, zu der Zeit ist es sehr verständlich, dass du den bringst. Jedenfalls eine schöne und für den Hof sehr clevere Tradition, die in Verbindung mit den Amuletten noch weit hintergründiger wird. Nur was hat es mit den Schwanenfedern bei der Zeus-Statue auf sich? Also, Sagenbezug oder religiöses Zeichen oder was ganz anderes?

Aug 21, 2024 11:46 by Racussa

Ja, Pläne in Plänen, wie es schon in Frank Herberts Dune heißt. Die Schwanenfedern? Oh, das ist dem Mythos von Leda und dem Schwan gewidmet. Die schöne Leda, Gattin des spartanischen Königs Tyndareos, hat mal nackt gebadet, da verwandelte sich Zeus in einen schönen Schwan, mit dem sie zuerst neckisch herumgespielt hat und dann ... das Übliche (> eines der vier Kinder daraus war die schöne Helena mit dem trojanischen Krieg).

The world is not enough.
Sep 8, 2024 12:23 by Secere Laetes

Ah, Leda. Ok, verständlich. Und da es Muslime sind, können sie diesen "Gott" dann auch mit Schwanenfedern bewerfen. Danke für die Info. Ja, die arme Hera hatte definitiv Grund für ihre Eifersucht.