Spiegelwolkenpfade

Kabeya gab auf dem Bedienfeld des Portals den Zielort für die erste Testfahrt ein und stellte sich vor das Tor, dass ausgehend vom leuchtenden Rand eine silbrigen Schleier aufbaute. Die Luft war erfüllt von aufgeladenen Partikeln, als sie zum ersten Mal ihre Hand in die liquide Masse des Spiegels tauchte. Sie fühlte eine leichte Kühle und spürte, wie sie sanft in das Portal gezogen wurde, bis sie ganz darin verschwunden war. Dann löste sich der Schleier wieder und Tylax, Kabeyas Freund und Miterfinder, stand allein vor dem Portal.   Tylax konnte nun wieder hindurch zum gegenüberliegenden Tor schauen, was die beiden für die erste Testreise am Ende der Wiese aufgebaut hatten. Er rannte auf die andere Seite und wartete, bis sich das zweite Tor zum ersten Mal öffnete und Kabeya langsam zurück ins Licht trat und ihre Augen bedeckte.   "Und, wie war es?", wollte Tylax sofort wissen.
"Ich bin froh, den Ausgang gefunden zu haben. Warte, ich muss mich erst wieder an die gleißende Sonne gewöhnen!". Sie wunderte sich, dass die Sonne immer noch hoch am Himmel stand und fragte Tylax, wie spät es sei. Tylax verstand die Frage nicht: "Warum, du bist doch gerade erst hineingegangen?!"
"Das kann nicht sein.", widersprach sie ihm: "Als sich das Tor schloss, stand ich in absolut schwarz-grauer Leere. Nur ein kleiner Lichtpunkt in weiter Ferne erschien mir als das Ziel und so versuchte ich, dort hinzugelangen. Ich hatte das Gefühl, dass es ewig dauert und ich Stunden brauchte, um den Punkt zu erreichen. Wenn wir unsere Erfindung für alle zugänglich machen wollen, müssen wir den Reisenden die Angst vor der Dunkelheit nehmen und ihren Wegen eine Richtung weisen."
 
Kabeya Ziye & Tylax Mímtash während der Testphase zur Erfindung der Portale um 3.500 BEC


 

Illusorisches Ökosystem

Die Illusionslandschaften zwischen den Spiegeltoren werden als Spiegelwolkenpfade bezeichnet und sie gehören in dieser Art seit Beginn zur Ausstattung der Portale. Für die Gestaltung war Liridon Phîstra aus der heute versunkenen Stadt Lîs verantwortlich. Es gab immer wieder Versuche, die ursprüngliche Landschaft durch komplett neue Illusionen zu ersetzen, doch wird gemunkelt, dass ein derlei gravierender Eingriff bzw. die große Flut, die auch die Wolkenpfade nicht verschonte, zur Entstehung von Irrlichtern, Illusionsgespenstern, Wolkendämonen, die immer wieder Portale heimsuchen, und vielleicht auch zum Expansionsleiden beigetragen haben. Aus diesem Grund wurde die Illusion im Laufe der Jahrtausende lediglich durch die Gestaltung der Wolken, Pfade und Verwendung unterschiedlicher Farben verändert. Dem ursprünglichen Konzept blieb man jedoch immer treu.   Wolkenpfade erstrecken sich über weite Wiesen und Felder auf denen goldenes Feenhaargras wächst, dass je nach Pfad von Wolken durchzogen ist, deren Farbpalette von weiß, über pink bis purpur reicht. Die Wege sind nicht nur auf Erdreich gegründet. Bei Portalen zwischen Gewässern wird der Weg zu einem leicht dahinplätschernden Flüsschen oder zu einem Bach, das je nach Zielort auch in einen normalen Weg übergehen kann. Es gibt in der Landschaft keine andere Vegetation, die einem vom Wege abbringen könnte oder groß zum Verweilen einlädt. Als Reisender kennt man die Gefahren, die auf den Wolkenpfaden lauern können und vermeidet deshalb auch so gut wie möglich einen längeren Aufenthalt.

Mirrow Cloud Paths by Blue Fairy 74 via Midjourney

 

Zwischen den Portalen herrscht weder Tag noch Nacht und das Licht erstrahlt wie die auf- oder untergehende Sonne.

Am Himmel ziehen wunderschön geformte Wolkenfomationen an den Reisenden vorbei, die in einem besonders magisches Lichtspiel getaucht wurden und verschiedene Formen wie Tiere, Pflanzen oder andere Dinge annehmen können.

Es wird behauptet, dass Glühsterne die einzigen Lebewesen an diesem Ort wären. Doch gibt es auch Berichte über Wolkentiere, die Reisende bis zum Ende begleitet hätten.

"Wow, hast du den dreiköpfigen Drachen gesehen, der aus den Wolken wuchs?"

"Los beeil dich! Wir wollen doch nicht, dass sich der Drache als Wolkendämon entpuppt."

Vater und Sohn zwischen den Portalen -
"Wer kam eigentlich auf die grandiose Idee, dieses Gras hier anzubauen? Das ist der größte Mist, der mir je untergekommen ist! Vermaledeite Gutsherren!"

Frustrierter Farmer -


Feenhaargras ist ein goldgelbes Gras, das so fein und zart ist und an die dünnen Fäden von karamelierten Zucker erinnert. Es wächst überall - auch an den Ufern der Flüsse und Bäche und scheint keine besonderen Vorlieben für spezielle Böden zu haben. Wie sollte es auch, da es sich ja eigentlich um eine Illusion handelt.   Das Gras fühlt sich, wenn man es mit den Fingern berüht, wie eine wohlige Decke an. Es duftet wie sonnengereiftes süß-malziges Getreide im Sommer und blüht die ganze Zeit mit kleinen golden schimmernden Blüten. Natürlich gab es Versuche, das Gras auch außerhalb der Portale zu pflanzen, was aber bisher ohne Erfolg blieb.

Glühsterne sind kleine Insekten, die sich scheinbar von den golden schimmernden Blüten des Grases ernähren und sich oberhalb des Grases in den Strahlen des Lichts tummeln.   Untersuchungen oder Beobachtungen zur Fortpflanzung oder zum Lebenszyklus gab es bisher keine, da alle eingefangenen Exemplare in der Außenwelt nicht überlebt haben.
 
"Professor, ich habe ein paar Glühsterne mitgebracht, um ihren Lebenszyklus zu studieren."

"Ich wünsche ihnen viel Glück dabei, aber wahrscheinlich werden eher die Sterne am Himmel erlöschen, als das die Glühdinger hier draußen überleben!"

Student und Professor im Gespräch -


 
Crack after expansion by Blue Fairy 74 - Midjourney filtered

Gefahren

Wie eingangs erwähnt, möchte sich niemand länger als nötig auf den Wolkenpfaden aufhalten, auch wenn die Landschaft noch so malerisch erscheint. Einfache Gefahren sind Reisekrankheiten wie Übelkeit, Kopfschmerz oder Schwindel, die natürlich nicht jeden Reisenden treffen und die durch das Wolkenwanderelixier, was heute in keiner Reiseapotheke fehlen darf, behoben werden können.   Auch das Expansionsleiden der Illusionslandschaft zwischen einigen Portalen ist nicht zu unterschätzen, da es die Durchreise deutlich verlängern kann, je nachdem wie weit die Ausdehnung bereits vorangeschritten ist. Erkennbar ist das Leiden an den verzerrten Bildern der Illusion wie in einem Zerrspiegel. Im schlimmsten Fall reißt die Illusion und der Reisende steht inmitten der schwarz-grauen Leere wie einst die Erfinder. Die Forscher wissen nicht, ob das Leiden durch die Flut, die Veränderung der Illusion oder vielleicht auch durch assimlierte Tote entsteht. Die Ausdehnung betrifft nicht alle Pfade. Sobald sie jedoch erst einmal in Gang gesetzt wurde, schreitet sie pro Jahr mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Zentimetern voran und kann nicht aufgehalten oder repariert werden - so als hätte das Leiden einen eigenen Willen. Erst mit der Leere "stirbt" auch die Ausdehnung und Illusionsdesigner können einen neuen Spiegelwolkenpfad anlegen.

Eine weitaus größere Gefahr geht von den weiß- bis purpurfarbigen Wattewolken aus, die das Feenhaargras bedecken und Reisende schläfrig werden lassen. Der Müdigkeit darf man auf keinem Fall nachgeben und dem Gefühl erliegen, sich auf den Wolken ein kurzes Schläfchen zu gönnen. Wenn man allein reist, ist dies der sichere Tod, da man nie wieder erwacht. Sicher, es ist davon auszugehen, dass dieses Phänomen schon viele genutzt haben, die nie wieder aufwachen wollten und so friedlich ins Jenseits übergetreten sind. Was mit ihren Körpern nach dem Tod passiert ist? Nun, das weiß niemand, aber Forscher vermuten, dass die Wolkenwiesen ihre Körper assimiliert haben, sodass kein Stück von ihnen übrig blieb. Aus diesem Grund sollte die Reisetasche unbedingt Alptraumtonikum beinhalten, woraus man bereits vor Eintritt einen Schluck nimmt, um garnicht erst einschlafen zu wollen.
Don't sleep here! by Blue Fairy 74 via Midjourney

Die dritte und größte Gefahr sind Illusionsgeister, Irrlichter und Wolkendämonen. Bis heute weiß man nicht, wie diese Gefahren einst entstehen konnten oder wie sie in die Portale gelangen.   Normalerweise gibt es zwischen den Toren keine Weggabelungen, da sich der Reisende den Zielort während der Aktivierung des Portals vorher vorstellen muss. Jedoch können Irrlichter unterschiedliche Pfade erzeugen, die dann im schlimmsten Fall im Nirgendwo enden oder an einem komplett anderen Ort.
Illusionsgeister dagegen zeigen den Ort deiner Wahl, können den Weg zum Ausgang aber für den Reisenden um Stunden oder Tage verlängern, sodass man verhungert oder einschläft.

Am Schlimmsten für Reisende sind aber Wolkendämonen, die die Wolken zu wahren dunklen Gewitterungetümen auftürmen und auf Reisende zurasen, um sie wie winzige Ameisen zu zermalmen. Aus allen drei Gefahren kann man nur entrinnen, wenn man läuft wie der Teufel und so schnell wie möglich, den Ausgang findet. Ansonsten ist man eigentlich verloren.


Cover image: Mirrow Cloud Paths by Blue Fairy 74 - Midjourney-Collage

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