Falsche Worte einer falschen Prophetin

"Blasphemisch", fluchte Nieel, "absolut blasphemisch. Wer würde es wagen etwas derartiges zu verbreiten?" Der junge Mann hielt das Pergament noch einen Moment zwischen seinen Fingern und starrte es aus finsteren Augen an. Als wäre er unfähig, die Worte darauf zu verarbeiten, bewegten sich seine Lippen im Rhythmus der Buchstaben, die er zum wiederholten Mal überflog.
"Du tust so, als hättest du noch nie mit jemandem geredet, der nicht an die Göttin glaubt.", erwiderte Killian müde. Zwar hatte auch er die Aufregung in Harmos ob des Textes mitbekommen, aber irgendwie konnte er es nicht nachvollziehen. Selbst wenn man nur die Menschen betrachtete, gab es wohl unzählige, die die Göttin für nicht mehr als ein Märchen hielten. Auf diese Masse war es wohl kaum überraschend, auch in der Hauptstadt der Kirche einige wenige zu finden, die diesen Glauben teilten. Und ihren Missglauben zum Ausdruck zu bringen, war nun einmal das gute Recht der Leute.

Nieel erhob sich von der langen Couch und trat näher an den Kamin heran. Mit hektischen Bewegungen zerriss er das Dokument in winzige kleine Fetzen, die sich vor seinen Füßen sammelten. Ein unwirscher Tritt beförderte sie ins Feuer. Er schnaubte kurz zornig, brummte einige weitere Verfluchungen.
"Entspann dich ein wenig.", riet Killian ihm und griff sich eine der eingepackten Süßigkeiten von dem Tisch zwischen ihnen. Er machte es sich seinerseits in seinem Sessel bequem und befreite die klebrige Zuckermasse aus der Verpackung, bevor er sich die bissfeste Masse in seinen Rachen warf. Zwischen festen Bissen auf die Leckerei, brachte er schmatzend hervor: "Wer auch immer das war, wollte die Häuser nur ein wenig ärgern. Entweder war es also nur ein Scherz, oder falls es wirklich ein Feind der Mahia gewesen sein sollte, hat er längst die Stadt verlassen. Als ob jemand dämlich genug wäre, etwas derartiges im Vorhinein anzukündigen."

"Falsche Worte einer falschen Prophetin" lautet ein Flugblatt, welches sich Anfang des Jahres 908 nBnZ. in Harmos verbreitete. Das blasphemische Schriftstück befasste sich mit dem Naturell der Göttin, der Ame und kündigte ein Attentat auf die Vertreterin der Kirche, die Mahia.

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Die eigentlich ruhige Nacht des 19. Sietmont 908 nBnZ. kam für die Stadt Harmos, der Hauptstadt der Kirche des Lichts, mit einem Schreck zu einem frühzeitigen Ende. Gegen 5 Uhr morgens verbreitete eine, bis heute nicht identifizierte, Person mehrere Flugblätter in den Gassen und Strassen der Stadt. Die vermummte Person wurde von insgesamt sechs Zivilisten aktiv beobachtet. Den Aussagen zweier Trunkenbolde nach, handelte es sich um eine junge, kleine Frau mit aschblondem Haar, die beim Verteilen der Schriftstücke eine fröhliches Lied sang.

Die vier übrigen Zivilisten, eine Gruppe von ansässigen Handwerken, die sich bereits in den Morgenstunden zu ihrem Tagewerk begeben hatten, bemerkten aus der Ferne die vermummte Gestalt. Ihrer Beschreibung nach handelte es sich bei der Person um einen Mann von wenigstens zwei Metern Höhe, welcher die Flugblätter gesammelt an Hauswände klebte. Obwohl die verantwortliche Person, oder Personen, nie von den exekutiven Kräften der Kirche gefasst wurden, schafften sie es einen Großteil der Flugblätter in ihren Gewahrsam zu nehmen, bevor sie sich in der Zivilbevölkerung und den religiösen Zirkeln verbreiten konnte. Einige wenige der Flugblätter genügten allerdings.

Inhalt

Die verbreiteten Schriftstücke lasen sich ein wenig wie eine wissenschaftliche Abhandlung. Ihr Kerninhalt waren die Gestalt, Fähigkeiten und das Naturell der Göttin selbst. Hierbei ließen die Schriftstücke es wirken als sei der Verfasser eine Zeuge der ursprünglichen Erscheinungen der Ame gewesen und habe sie in all ihrer Glorie leibhaftig miterlebt. Die Flugblätter lassen eine klare Botschaft erkennen. Laut dem Autoren ist die Ame keinesfalls ein göttliches Wesen, sondern stattdessen lediglich ein Magier, welcher die fünfte Stufe der Magie überwunden und eine sechste Stufe erreicht hat.

In dem Schriftstück finden sich erstaunlich viele positive Anmerkungen der Göttin. So wirkt der Autor beinahe wie ein Bewunderer. Obwohl er klar ihre Selbstdarstellung als Göttin aufdeckt, scheint er sie keinesfalls zu rügen, sondern lohnt sie stattdessen für dieses "Meisterwerk darstellender Künste". In diesem Zusammenhang erklärt er die Göttin ebenfalls als Anwenderin einer fortgeschrittenen Lichtmagie und erklärt ihre Fähigkeit zur Wolkenmanipulation mit einer Sekundärmagie, welcher die Magierin Herr wurde.

Der Verantwortliche beruft sich als Quelle primär auf seiine eigenen Worte und beschreibt in diesen die Lichtpartikel, welche im Kampf gegen die sieben Höllenbestien zu erkennen waren als optische Illusionen, um die roten Nebelwolken der eingesetzten Magie zu verbergen. "Falsche Worte einer falschen Prophetin" beansprucht außerdem, dass es sich bei der Göttin keinesfalls um eine Magierin des fünften Zeitalters oder eine frühere Version des Heldens handelt, welcher die achte Höllenbestie bezwang. Stattdessen handelt es sich bei ihr, um eine Magierin, welche sowohl das vierte Zeitalter als auch das Erwachen zu ihrem Vorteil nutze und sich selbst in die Rolle der Göttin aufschwang.

Attentat

Während die ersten Seiten der Flugblätter lediglich versuchten die Natur der Ame zu offenbaren und ihr "ihre golden Krone zu entreißen" erschienen im Verlauf des Tages weitere Flugblätter, welche die Ame selbst zu einem Beweis ihrer Macht aufforderten. Der Autor kündigte einen Anschlag auf die amtierende Mahia an, welche am Abend des Tages eine Prozession durch die Stadt anführen sollte. Der Autor forderte die Göttin auf, sollte sie tatsächlich göttliche Kräfte besitzen, seinen Anschlag aufzuhalten und das Leben ihrer Tochter vor seinen "Klauen der Nacht" zu bewahren.

Auswirkungen

Das Schriftstück sorgte sowohl in den vier Häusern der Kirche, als auch in der zivilen Bevölkerung für viel Aufsehen. Viele Stimmen in Harmos sprachen sich dafür aus, die Prozession abzusagen und die Mahia keiner Gefahr auszusetzen. Gleichermaßen jedoch verlangten viele die Durchführung der Prozession, sowohl um dem Verantwortlichen nicht nachzugeben als auch vielleicht für die Chance eine Machtdemonstration der Ame persönlich zu erleben. Letztendlich wurde die Prozession durchgeführt und der angekündigte Anschlag fand nicht statt. Nicht wenige vermuteten, dass die Ame den Autoren bereits im Vorfeld der Veranstaltung zur Rechenschaft gezogen hatte und hierdurch bereits für Gerechtigkeit gesorgt worden war.


Cover image: by Midjourney

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