Yon Singuen

"Armes, kleines Ding.", murmelte der Mann während er sich ruhig und gelassen auf das weiche Kissen unter sich sinken ließ. Sein Gesäß bettete sich in den dreckigen Stoff. Eine Zeit betrachtete er das Mädchen, welches im Bett vor ihm lag. Der Atem der Kleinen war hektisch, beinahe peinisch, obwohl ihre geschlossenen Augen auf eine Abwesenheit ihres Bewusstseins hindeuteten. Sie schnaubte, wobei der nasse und kühlende Lappen auf ihrer Stirn verrutschte.

Behutsam bewegte er seine zittrigen Finger nach vorne und richtete den Lappen wieder, wobei er ihr ein freundliches Lächeln schenkte, obwohl sie es nicht sehen konnte. Er hörte das Weinen der beiden Eltern hinter sich, versunken in den haltenden Griff des jeweils anderen. Er verabscheute dieses Geräusch. Ein die Seele erschütterndes Weinen, welches ausschließlich Eltern von sich gaben, die sich von ihren eigenen Kindern verabschieden mussten. Es war die Mutter, die sich zuerst ein wenig fing, ihren Mann behutsam absenkte, welcher auf seinen eigenen Knien liegen blieb.

"Sie wird nicht mehr lang haben. Die Ärzte sind jetzt bereits verwundert, wie lange ihr Körper durchhält.", schluchzte die Frau während sie herantrat und die Decke über ihrer Tochter ein wenig höher zog, um den hektisch auf und ab hebenden Brustkorb zu verdecken, "Mirros hat sie wahrhaft mit viel Stärke gesegnet."
"Wahrlich", erwiderte er und griff unter seinen Mantel. Seine Hand hob ein halb zerfleddertes Buch hervor. Vereinzelte Seiten hingen halb abgetrennt heraus und der Einband war vollkommen vergilbt und verschmutzt.
"Ihr sagtet", setzte er nach einem kurzen Moment an, "ihre Lieblingsgeschichte sei die vom Drachen aus dem Osten, nicht wahr? Dann wird diese hier ihr mit Sicherheit ganz außerordentlich gefallen."

Yon Singuen galt lange Zeit als einer der einflussreichsten und mächtigsten Mogule von Lahoral. Er erbte das Imperium seiner Familie, welches sowohl für die Verarbeitung von Metall, seltenen Erzen als auch die Schaffung und Instandhaltung von Infrastruktur verantwortlich war. Nach dem Tod seiner geliebten Tochter gab er dieses Leben jedoch auf und widmete sich einem simpleren Leben als Geschichtenerzähler.

Geburt

Yon wurde als erster Sohn von Kion und Kaelea Singuen geboren und somit auch als ihr Haupterbe. Er wurde am 14.03.852 nBnZ. im Anwesen der Familie Singuen unweit von Habernall geboren und in den folgenden Tagen auch ausschließlich vor Ort untersucht. Zur Zufriedenheit seiner Eltern zeigte er einen starken und gesunden Körper und eine grundsätzliche Begabung zum Erlernen der Geistesenergie. Die Existenz eines Orakels in den eigenen Reihen bedeutete für sie, keine Notwendigkeit mehr für ein bedienstetes Orakel zu haben, welches die Familie vor fremder Einflussnahme schützen müsse.

Jugend

Im Alter von vier Jahren erlernte Yon das Lesen und Schreiben. In den folgenden Jahren wurde er in allen wichtigen Aspekten ausgebildet, die ihn zur Steuerung des Unternehmens seiner Familie befähigen würde. Als Yon sieben Jahre alt war, wurde seine kleine Schwester geboren, sowie drei Jahre später sein kleiner Bruder. Später wurde Yon zur Förderung seiner übernatürlichen Begabung nach Habernall gesendet, um dort in der Akademie unterwiesen zu werden. Er erhielt in selbigem Internat regelmäßige Besuche von Privatlehrern, die ihn abseits seiner akademischen Ausbildung mit den Spezifikationen des Familienbetriebs vertrauten.

Übernahme

Unglücklicherweise starb Yons Vater Kion nur kurz nach Yons 22tem Geburtstag und hinterließ seinen verhältnismäßig jungen Sohn dem Auftrag, das Familienimperium und die Fabriken zu handhaben. Geplagt von Trauer sah sich seine Mutter außer Stande zu helfen, weshalb Yon größtenteils alleine Herr dieser schwierigen Lage werden musste. Er verabschiedete seinen Vater mit einer prunkvollen Zeremonie im Herzen ihres Anwesens und fungierte ab dem folgenden Tag als alleiniger Vorstand ihres Unternehmens.

Seine Geschwister arbeitete er ebenfalls in die Handhabe des Unternehmens ein und ließ sie zusehends Teile übernehmen, um sich selbst zu entlasten. Dennoch galt Yon in dieser Zeit als unersättlicher Tausendsasser, der in nahezu jede Baustelle ihrer Unternehmungen eingeplant war. Gleichzeitig verstand er sich darauf, den guten Ruf des Betriebs zu wahren und zu fördern. Nicht unerhebliche Summen spendete er in wohltätige Zwecke, förderte Kunst und Kultur in Lahoral und setzte sich für ein sozial beliebtes Projekt ein, welches für benachteiligte Arbeitsplätze schuf, nicht wenige gesponsort durch ihn selbst.

Ehe und Vaterschaft

Auf einer Geschäftsreise im Jahr 880 lernte er Mia Varoue kennen, eine Handelsfrau aus Mas'Orat, mit der eine leidenschaftliche Beziehung entbrannte, die noch im selben Jahr in einer Ehe und ihrer Schwangerschaft mündete. Im folgenden Jahr wurde Yons erstes und einziges Kind geboren, seine Tochter Kima. Aufgrund seiner beruflichen und öffentlichen Verpflichtungen war Yon jedoch nur wenig in ihre Kindheit und ihre jungen Jahre eingebunden. Mia zog sich aus der Berufswelt zurück und wandte sich der Umsorgung ihrer Tochter und ihres Anwesens zu. Sie genoss sowohl unter den Bediensteten als auch den Bekanntschaften und der Öffentlichkeit große Beliebtheit und fungierte nicht selten als Gesicht des sozialen Engagements ihrer Firma.

Um das Jahr 895 begann sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens erheblich zu verschlechtern. Eine Reihe von Fehlinvestitionen, darunter eine Expansion in die eher ländlichen Regionen, sowie die Küstengegenden und auch mehrere Überfälle auf Transporte durch Oleara Manis brachten das Unternehmen an den Rand des Konkurses. Nichts hiervon brach ihn jedoch so sehr wie das Ableben seiner geliebten Frau, nur zwei Jahre nachdem sie mit Morbine Nekroa diagnostiziert worden war.

Im Jahr 903 nBnZ. sah sich Yon, im Hinblick auf die finanzielle Zukunft des Unternehmens, gezwungen, seine Tochter mit einem reichen Handelskaufmann zu verheiraten, welcher sich in Habernall einen Namen machte. Die Fusion ihrer beiden Unternehmen würde zwar seine Firma retten, jedoch seinen Stand innerhalb der vereinten Firmen erheblich schmälern. Kima protestierte gegen die Zwangsvermählung, lehnte die Beziehung grundlegend ab und drohte mehrfach damit, noch vor der Eheschließung zu flüchten.

Diesen Willen konnte sie leider nicht durchsetzen und so wurde sie am 9.11.904 in einer Kathedrale außerhalb Habernalls unter dem Segen der Ame verheiratet. Noch in der selben Nacht beging die junge Frau Selbstmord. Sie hinterließ keinerlei Briefe oder andere Schriftstücke, welche einen genaueren Einblick auf ihre geistige Verfassung gewähren könnten, was den Tod der jungen Frau umso tragischer machte. Nur wenige Zeit später meldete Yon die Insolvenz seines Unternehmens, flüchtete aus der Öffentlichkeit und brach jede Kommunikation zu seinen Bekannten ab.

Persönliche Wiedergutmachung

In den folgenden Tagen erhielten eine Reihe von wohltätigen Einrichtungen großzügige Spenden, allesamt im Namen von Kima Singuen. Die Maschinerien und Besitztümer der Firmen und das gesamte private Vermögen wurden veräußert und gleichermaßen unter den nun arbeitslosen Mitarbeiten und Bedürftigen aufgeteilt. Yon dagegen zog sich aus dem breiten Trubel zurück und begann sowohl die Gebiete von Lahoral als auch die neutrale Zone zu durchstreifen.

Auf seiner Reise begleitete ihn lediglich simple Kleidung und ein Buch, in welchem er die liebste Kindergeschichte seiner Tochter festgehalten hatte. Seither durchstreift er die genannten Gebiete, unternimmt von Zeit zu Zeit Umschweife in die übrigen Länder und tauscht die von ihm gesammelten Kindergeschichten gegen mündlich oder schriftlich überlieferte, regionale Erzählungen. Das von ihm mitgeführte Buch, in welchem seine umfassende Sammlung gebündelt ist, trägt keinen Namen und wird lediglich von einem Bild gezeichnet, dem ersten Bild, welches seine Tochter jemals für ihn gezeichnet hatte, sowie einem Bild seiner Frau auf der Rückseite.


Cover image: by CSor96 using Midjourney
Character Portrait image: by CSor96 using Midjourney

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